Töpfer betreibt Störfall-Kosmetik

■ Bei Atomkraftwerken soll Störfallbeauftragter eingesetzt werden / RWE sieht im Fall Biblis ausländische Verschwörung / Staatsanwalt ermittelt / Hessens Umweltminister Weimar zunehmend unter Druck

Bonn/Wiesbaden (taz) - Die Darmstädter Staatsanwaltschaft hat wegen des Störfalls im AKW Biblis ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen die Betreiberfirma RWE eingeleitet. Oberstaatsanwalt Vogel erklärte, es bestehe der begründete Verdacht einer „fahrlässigen Freisetzung ionisierender Strahlen“.

Der Vorstandsvorsitzende der RWE, Günther Klätte, hat eine verblüffende Erklärung für die neuerliche Krise der Atomindustrie gefunden. Er sieht hinter der Veröffentlichung des Störfalls im AKW Biblis die Geschäftsinteressen der ausländischen Atom-Konkurrenten. Klätte wies daraufhin, daß das amerikanische Fachblatt 'Nucleonics Week‘ den Störfall aufgedeckt hat. Offenbar solle die deutsche Atomindustrie „kaputtgemacht“ werden.

Umweltminister Töpfer ließ gestern nachmittag im Bundestag offen, ob er dem Biblis-Betreiber RWE über eine Bundesweisung die Betriebsgenehmigung entziehen will. Sein hessischer Kollege Weimar hatte ihm zuvor mitgeteilt, er habe die im Atomgesetz geforderte Zuverlässigkeit des RWE „zu keinem Zeitpunkt“ infrage gestellt. Weimars Äußerung vor der Pressekonferenz, der Betreiber habe die Behörden „erkennbar falsch“ informiert, sollen laut Weimar „aus dem Zusammenhang gerissen“ sein. Töpfer sagte dazu, er behalte sich eine abschließende Entscheidung vor und wolle darüber mit Hessen beraten. In Biblis habe sich „ein bedeutender Störfall“ ereignet; ein technischer Ablauf, der zu einem nicht beherrschbaren Störfall führen könne, sei jedoch „hinreichend unwahrscheinlich“ gewesen. Damit schwächte Töpfer seine Aussage vor dem Umweltausschuß am Vortag ab, wo er das schlimmere Szenario immerhin als „denkbar“ bezeichnet hatte.

Nachdem in allen Parteien Kritik am Störfallmeldesystem laut geworden ist, kündigte der Umweltminister gestern eine Reihe von Neuerungen an: Der bisher jährliche Störfallbericht soll nun quartalsmäßig erscheinen; für jeden Reaktor soll ein „Störfallbeauftragter“ gesetzlich vorgeschrieben werden; Störfälle, die über die unterste Kategorie „N“ hinausgehen, sollen der Öffentlichkeit sofort mitgeteilt werden; die Störfall-Kategorien seien weiter zu differenzieren und die Reaktorsicherheitskommission um einen Ergonomie-Sachverständigen zu ergänzen.

Die angekündigte Sofort-Information der Öffentlichkeit verdient ihren Namen allerdings kaum: Weder Töpfer noch der RSK-Vorsitzende Birkhofer wollten gestern mitteilen, wieviele Störfälle der mittleren Kategorie „E“, in die Biblis nachträglich hochgestuft wurde, die Betreiber im vergangenen Jahr als solche überhaupt meldeten. Bekannt wurde nur, daß außer Biblis Störfälle in Phillipsburg II, Krümmel, Gundremmingen C, Brunsbüttel und Würgassen nachträglich hochgestuft wurden. Somit ist klar, daß nur ein Bruchteil der „Eilt„-Fälle pro Jahr von den Betreibern gleich in dieser Dringlichkeit gemeldet wird. Auch mit der Neuregelung muß die Information der Öffentlichkeit also bruchstückhaft bleiben, wenn sie weiterhin nur auf den Betreiber-Angaben basiert.

Im hessischen Landtag werden die Fraktionen der Grünen und der SPD am kommenden Dienstag einen Entlassungsantrag gegen Umweltminister Weimar (CDU) einbringen. Fischer (Grüne) und der Landesgeschäftsführer der SPD warfen gestern dem Kabinettsbenjamin erneut gezielte Vertuschung der Biblis -Störfälle vor.

Als „Skandal im Skandal“ bezeichnete es Fischer, daß Weimar auch im Umweltausschuß des hessischen Landtages versucht habe, die Landtagsfraktionen über die Vorfälle im Block A des AKWs zu täuschen. Bereits im Februar 1988 habe dem Umweltministerium ein Gutachten des TÜV Bayern vorgelegen, das auf die Ausmaße des Störfalls einging. Dem entgegen hatten Weimar und sein Staatssekretär Popp nach Bekanntwerden des Störfalls erklärt: „Es bestand keine Gefahr.“ Im Umweltausschuß des Landtages habe Weimar am Mittwoch berichtet, daß es zu keinem GAU habe kommen können. Bundesumweltminister Töpfer habe indes erklärt, daß „das Versagen beider Absperrarmaturen hätte zu einem nicht beherrschbaren Störfall führen können - die Sicherheit der Bevölkerung hing an einem einzigen Ventil“, zitierte Klemm Töpfer.

Unterdessen sind zwei weitere schwere Störfälle der Kategorie „E“ in baden-württembergischen Atomkraftwerken bekanntgeworden, die bisher verheimlicht worden sind. In Obrigheim ist am 23. Oktober '87 ein Leck an einer der zwei Hauptkühlpumpen aufgetreten. In Phillipsburg war der automatische Starter für die Notstrom-Dieselaggregate defekt.

Ch.Wiedemann/M.Blum