Wenn einer keine Reise tut ...

■ ... dann könnte er auf dem Oberneulander Friedhof den Gedenkstein für Heini Holtenbeen begucken, über Faulheit, Unglücksfälle und Zigarrenschnorren sinnieren und abschließend über Bremens Originale

Auf dem Oberneulander Friedhof steht ein Gedenkstein ganz besonderer Art. Denn während hier sonst - in diesem Sadtteil der Gutbetuchten (Fußballprofis, d.Red.) - viele liegen, die durch fleißige Vermehrung ihres Kapitals zu Reputation gekommen sind, hat der Mann, der da auf dem Gedenkstein abgebildet ist, sein Leben in konsequenter Faulheit gelebt, und seine Nahrung waren die Brosamen, die von der Reichen Tische fielen.

In seinem grauen Paletot, den Körper leicht nach vorn auf einen Stock gestützt, ein Bein nachgezogen, so schaut er den Betrachter an.

Zum Gedenken an Jürgen Heinrich Käberle, genannt Heini Holtenbeen, geboren am 14.8.1835, gestorben am 16.9. 1909. Bestattet auf diesem Kirchhof.

Heini Holtenbeen ist wohl das bekannteste Bremer Original, und, wie häufig bei Originalen, findet man auch in seinem Leben einen Unglücksfall, durch den er erst wunderlich und auffällig wurde. Jürgen Heinrich Käberle ging beim Tabakküpermeister Hermann Heinrich Trost in die Lehre und mußte da noch ein ganz normaler Junger gewesen sein.

Dann aber wurde er Opfer eines Unglücks. Er fiel aus der Bodenluke und behielt von diesem Struz ein lahmes Bein und einen wirren Kopf.

Eins aber blieb ungetrübt:

seine kenntnisreiche Liebe zu Tabak und Zigarren. Und damit muß es auch zusammengehangen haben, daß er einen großen Teil seines Lebens, das er fortan mit kleinen Besorgungen und Betteleien zubringen mußte, auf der Treppe zur Bremer Börse zu sehen war. Nicht, um die Börsianer um ein Almosen anzugehen - Heini Holtenbeen trieb die Leidenschaft für erstklassige Zigarren auf die Börsentreppe.

In der Börse war nämlich das Rauchen streng verboten. An der Tür gab es eine Zigarrenablage, und wenn die Kaufleute mit geschäftsmäßig schnellem Schritt zur Börse eilten, dann drückten sie vor der Tür rasch ihre Brasil aus oder warfen den Stumpen ein

fach auf die Treppe. Und schon kam Heini Holtenbeen herangehinkt, rauchte die Zigarre zu Ende oder sammelte sie als Vorrat für das Armenhaus, wo er mit den Armenhäuslern einen Kleinhandel für Tabakreste trieb.

Die Börsianer hatten sich bald an Heini Holtenbeen gewöhnt, ja es gab Kaufleute, die sich kurz vor der Tür noch extra eine Brasil ansteckten, um Heini Holtenbeen den großzügigen Rest zu lassen.

Gebettelt hat Heini Holtenbeen eigentlich nie. Er „lieh“ sich stets nur etwas.

Kannst mi nich'n halben Groschen lehn, ik schrief dat in min Hauptbook in.

Nur vergaß er eben meist, das Geliehene wieder zurückzuzah

len. Nicht vergessen aber hat man die Sprüche, mit denen Heini Geld schnorrte. Wenn er in Kontore ging, sagte er meistens:

Meine Herrens, meine Damens, guten Tag meine Herrens, große Neuigkeit, im Hafen ist ein Schiff mit Indigo ausgelaufen, der ganze Hafen ist blau.

Weiter kam er in der Regel nicht, weil man ihm, nachdem man ihm einen Groschen geschenkt hatte, bald wieder abschob.

Von anderen leben, ohne anderen zur Last zu fallen, das hätte das Motto Heini Holtenbeens sein können, aber er hatte kein Motto, er hatte nur seine Schnäcke:

Teindusend Särge schwimmen up de Werser, un keen Minsch will starwen, schannewert, schannewert.

Und als der Halleysche Komet um 1900 über Europa niederzugehen drohte, und alles vom kommenden Ende der Welt sprach, sagte Heini Holtenbeen nur lapidar:

Wenn de Welt unnergeiht, fohr ik no Hanover, dor hebb ik Verwandte.

Im November 1908, vor gut achtzig Jahren also, wurde Heini Holtenbeen krank. Er, der die meiste Zeit seines Lebens in einem kleinen Kabuff in einem Hinterhof des Schnoor gelebt hatte, kam nun ins St. Jürgens Asyl nach Ellen, wo er ein Jahr später starb.

So mut ik nu so uthollen, dat ik all de Stummels kauf heff.

Auf Kosten der Armenpflege wurde er in Oberneuland begraben - ohne Blumen und ohne Grabkreuz, das war nicht drin bei einem Armenbegräbnis.

1981 errichtete man ihm einen Gedenkstein auf dem Oberneulander Friedhof, dem Jürgen Heinrich Käberle, den man in Bremen nur unter dem Namen Heini Holtenbeen kennt.

Bernhard Gleim