Ein Vorstand fällt aus allen Wolken

■ Die grüne Basis läßt ihren Fundi-Bundesvorstand über die Finanzaffäre „Haus Wittgenstein“ kippen

Unter dem Zeichen der Europäischen Gemeinschaft kam es zur furiosen Schlammschlacht: Auf dem „Europa-Parteitag“ stürzte die grüne Basis überraschend ihren Bundesvorstand. Ein Komplott, eine Wende? - Auf jeden Fall eine Premiere. Bisher konnten sich die Fundis stets auf Bundesversammlungen verlassen. Von einer Grundsatzentscheidung über den Kurs der Partei kann aber keine Rede sein: Unter jenen, die dem Vorstand das Mißtrauen ausgesprochen hatten, waren nicht wenige Fundis.

„Während Europa auf uns guckt, machen wir wieder Nabelschau.“ Ob die Europapolitik, konkret: die Aufstellung eines Wahlprogramms und einer Kandidatenliste für die anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 1989, wie vorgesehen, das große Thema sein oder in einer innerparteilichen Schlammschlacht über die schlagzeilenträchtigen Finanzquerelen der Parteileitung versinken würde, das war die große Preisfrage, die zu Beginn des Parteitages wie eine imaginäre Gewitterwolke den bunten Pappe-Regenbogen über dem Podium überschattete. Von insgesamt sechs Landesverbänden lagen Rücktrittsanträge gegen den von Fundis dominierten Bundesvorstand (BuVo) vor. Ein Gros der Delegierten befürchtete, daß ein kameragerechtes „Waschen schmutziger Wäsche“ jenes öffentliche Bild vervollständigen würde, die Grünen hätten zu politischen Themen nichts mehr zu sagen. „Nun laßt uns nicht auch noch Europa vergessen“, mahnte denn auch der Vorsitzende der Regenbogenfraktion im Europaparlament, Wilfried Telkämper. Der Karlsruher Parteitag der Grünen hat, jedenfalls tagesordnungstechnisch, beides souverän abgehakt: das überfällige Clearing in der Parteileitung und die europapolitische Debatte.

Gerade dem pragmatisch orientierten Teil der Delegierten dämmerte, daß mit der Hypothek eines teilweise ungeklärten Finanzskandals bei den wegen ihrer Signalwirkung auf die darauffolgenden Landtagswahlen wichtigen Europa-Wahlen kein Blumentopf für die Sonnenblume zu gewinnen sein würde. So versuchte der Bundesvorstand erfolglos, dem Plenum unter Hinweis auf die Bedeutung der Europa-Wahl eine Debatte über den Finanzskandal auszureden. In der dann folgenden, von Klatschorgien, Buh- und Pfeifkonzerten sowie polemischen gegenseitigen Attacken geprägten Aussprache wurde immer wieder der Rücktritt des BuVos eingeklagt. Die von der Stimmung unter den Delegierten offenbar überraschten Fundi -Mitglieder des BuVos stellten ihre blütenreine Weste heraus und kanzelten in Bunkermentalität die Vorwürfe als „inszenierte Schmutzkampagne“ ab, mit der in Wirklichkeit eine politische Strömung aus der Partei ausgegrenzt werden solle. Einige Exponenten der Fundis steigerten sich in eine fast paranoide Opferrolle hinein: „Ich weiß nicht“, betonte Schatzmeister Hermann Schulz gleich drei Mal, „warum ich zurücktreten soll.“ Die bekannten Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Finanzgebaren des BuVos und der parteieigenen Villa „Haus Wittgenstein“ kanzelte er als „Schuldlüge“ ab; den Kritikern ginge es lediglich um das „existentielle Fertigmachen“, gar „persönliche Vernichtung“ politisch Unliebsamer. Den Zorn nicht nur realpolitisch orientierter Delegierter weckte seine „Pogrom„-Warnung. Erst nach mehreren Wellen von Buh-Geschrei („Ich weiß nicht, ist das Wort so schlimm?“) lenkte er ein: „Ja, ich nehme das Wort zurück.“

Auch BuVo-Frau Regina Michalik kaschierte exemplarisch die tatsächlichen Fronten: „Ich trete zurück, wenn ihr sagt, ihr wollt keine Feministin als Sprecherin.“ Doch das war nicht die Frage. Es waren nicht nur Delegierte aus den Reihen der Realos und der Gruppe um Antje Vollmer „Aufbruch 88“, die jene Mehrheit ermöglichte, die den BuVo in die Wüste schickte. Auch Delegierte, so war zwischen den Stuhlreihen zu hören, die durchaus radikale Positionen in der Parteileitung präsentiert sehen wollen, trauten diesem BuVo nicht mehr die Bewältigung der aktuellen Krise zu. Die Schuldzuweisung für den Finanzskandal war für sie zweitrangig. Die Wagenburgmentalität des BuVos gab den Ausschlag. Auf dem Spiel stand das Abstraktum „Politikfähigkeit“.

Kurz vor elf Uhr am Freitag abend erklärte der Bundesvorstand seinen Rücktritt, nachdem eine Mehrheit von 214 zu 186 sich nicht mit den vorliegenden Rücktrittsanträgen zu befassen. Der BuVo hatte zuvor erklärt, er werde eine Abstimmungsniederlage als Mißtrauensvotum ansehen.

Kein Durchmarsch

Als einen „Erfolg für die ganze Partei“ feierte Realo -Exponent und MdB Otto Schily das am Samstag morgen; sie müsse jetzt diese „große Chance nutzen für einen Neuanfang“. Deutlicher rückte eine von MdB Antje Vollmer im Namen der Gruppe „Aufbruch 88“ vorgetragene Erklärung den Eindruck zurecht, es sei eine Grundsatzentscheidung über den zukünftigen politischen Kurs der Partei gefallen: „Wir sehen keinen Sieg einer politischen Strömung innerhalb der Grünen.“ Die Bundesversammlung habe jedoch „selbst die Verantwortung für die weitere Entwicklung der gesamten Partei übernommen“.

In der Tat scheinen Spekulationen darüber voreilig, ob der Karlsruher Knall zu einer politischen Runderneuerung der Grünen, gar zu einem „Durchmarsch bei den Grünen“ oder „hessischen Verhältnissen auf Bundesebene“ führen kann. Schließlich steht jetzt die Wahl eines neuen BuVos auf einem vorgezogenen Parteitag bevor. Bis dahin soll der Bundeshauptausschuß, zahlreich mit Fundis besetzt, das oberste Parteigremium zwischen den Parteitagen, die Geschäfte der Parteileitung kommissarisch führen.

Als einen Erfolg für die Realos in ihrem Bestreben, die Grünen „unbegrenzt koalitionsfähig“ - selbst mit FDP und CDU - zu machen, geißelte Ex-BuVo-Sprecher Christian Schmidt das Votum. Nach stundenlangen internen Beratungen der Fundis beantragte Schmidt den Abbruch des Parteitags und die Vertagung der Europa-Debatte. Die neue Mehrheit dürfe jetzt nicht Programm und Liste „durchzocken“. (Tags zuvor hatten sie gerade mit der Bedeutung der Euro-Debatte die Finanzdebatte abzuklemmen versucht.) Als eine große Mehrheit dieses Ansinnen verwarf, erklärte Schmidt trotzig, „die Linken“ stünden für diese Europa-Debatte „nicht mehr zur Verfügung“. Sie könnten nach diesen Entscheidungen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. „Ob und welche linke Politik bei den Grünen noch möglich ist“, müsse nun erst geklärt werden. Welche ihrer Positionen, so hatten sich die Fundis auf ihrem Beratungstreff geeinigt, in der Partei noch interventions- und punktuell mehrheitsfähig sind, soll eine bundesweite Konferenz im Januar zeigen.

Die geplante Konferenz ist ein Indiz dafür, daß ein resigniertes Zurückziehen in den Schmollwinkel sich vorerst auf einige wenige individuelle Entscheidungen beschränken wird. Ex-Schatzmeister Hermann Schulz hat seinen Austritt aus der Partei zum Jahresende erklärt. Christian Schmidt will wieder Lehrer werden.

Innerhalb der Fundis hagelte es übrigens sogleich verbiesterte Kritik an den sogenannten undogmatischen Linken, weil einige von ihnen sich trotz des markig verkündeten Auszugs an der Europa-Debatte beteiligten, zwei gar im Kandidaten-Karrussel um die Sessel in Straßburg mitmischten. Gleich welche grüne Strömung - ein paar Fische schwimmen immer gegen den Strom.

Thomas Scheuer

Ein ausführlicher Bericht zum Europa-Wahlprogramm der Grünen folgt morgen in der taz.