Sowjet-Debatte beendet

■ Nur schwacher Beifall für den Vorsitzenden des estnischen Sowjets, Arnold Rüütel Heute Abstimmung im Plenum des Obersten Sowjets über Verfassungsänderung

Moskau (dpa/ap/afp/taz) - In Moskau wurden gestern mittag die Debatten im Plenum des Obersten Sowjets über eine Änderung der Verfassung und des Wahlgesetzes vorläufig beendet. Am Nachmittag tagten die Gesetzesausschüsse beider Kammern. Mit der Endabstimmung im Plenum wird für heute gerechnet. Gestern morgen versuchte der Vorsitzende des Obersten Sowjets von Estland, Arnold Rüütel, den aufsehenerregenden Souveränitätsbeschluß des Estnischen Parlaments vom 16. November vorsichtig zu rechtfertigen. Die Verfassungsänderung, die der Oberste Sowjet augenblicklich berät, enthalte „viele Zusätze, mit denen wir einverstanden sind“, sagte Rüütel. Trotzdem meldete er erneut Bedenken gegen den geplanten Kongress der Volksdeputierten an und forderte ein eigenes Wahlsystem einzelner Republiken. Er warnte davor, daß die nun in die Vorlage aufgenommen Veränderungen „Schablonen bleiben“. Rüütel erhielt nur schwachen Beifall.

Die Besorgnis Estlands und der anderen baltischen Staaten gilt vor allem einer Bestimmung, nach der das Staatspräsidium den Ausnahmezustand verhängen und Militär in jede Republik entsenden kann. Der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Anatoli Lukjanow sagte dazu am Dienstag, es sei jetzt vorgesehen, daß die Republiken dabei konsultiert werden und die Notstandsmaßnahmen zeitlich begrenzt werden müßten. Ungeachtet dieser Zugeständnisse waren schon am Dienstag die unterschiedlichen Standpunkte hart aufeinandergeprallt. Der Vorsitzende des Obersten Sowjets von Lettland, Anatoli Gorbunow, forderte, die Entscheidung über das ganze Reformpaket zurückzustellen. Gorbunow kritisierte, daß eine Person mehrere Sitze in dem geplanten Kongreß der Volksdeputierten innehaben könne, und forderte die Direktwahl des Obersten Sowjets durch das Volk. Auch müßten die Republiken gegen umweltschädigende Unternehmen vorgehen können, selbst wenn diese Moskauer Ministerien unterstünden. Noch weitergehende Vorschläge machte Gorbunows litauischer Kollege Vitautas Astraukas. Er verlangte eine völlig neue sowjetische Verfassung mit einer Stärkung des förderativen Systems; dabei sollte sich die Moskauer Führung auf Fragen beschränken, die die ganze Sowjetunion betreffen.

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