The Mädchen is Message

■ Orpheurydice - Frauenmord und Kunstproduktion Ein erster Blick zurück auf Klaus Theweleits „Buch der Könige“

Mathias Bröckers

Wie rezensiert man so was? 1.200 Seiten, vom Waschzettel angekündigt als zweiter Versuch im Schreiben ungebetener Biographien. Kriminalroman, Fallbeschreibung und Aufmerksamkeit zum 100. Geburtstag von Gottfried Benn, zum 80. von Klaus Mann, zum 51. von Elvis, zum 101. von Ezra Pound, zum 103. von Franz Kafka, zum 130. von Freud, zum 92. von Celine, zum 127. von Knut Hamsun, zum 721. von Dante und zum 18. Geburtstag der 68er Generation. Mehr zur erzählenden Psychoanalyse des Nicht-zu-Ende-Geborenen: Narziß, die Räusche, das Rauschen - und vom Diskursmischer Klaus Theweleit vermixt, verschaltet, verkabelt und auf weitere 2.000 Druckseiten (Drei Bände die 1989 ff. erscheinen sollen) projektiert. Fünf Nächte, und wenn Zeit war auch am Tag in der U-Bahn und im Park, habe ich gelesen, einmal ganz durch und dann noch einmal quer - als sichtbare „Frucht“ dieses Lesens liegen jetzt drei Zettel hier, vollgeschrieben mit Namen, Stichworten, Bedeutungs-Paaren und -Trios, reichlich Kringeln, Pfeilen, Klammern - Querverbindungen. Wie bringt man das auf die Reihe? Erstmal überhaupt nicht. Im ersten Band des Buchs der Könige geht es um: Medien/Frauen/Tod, Benn/Godard, Geschichte (Wiederholung, Re -Inszenierung, Transformation), Lloyd de Mausse, Schreibsysteme/Kunstproduktion, Kindsgeburten/Kopfgeburten/Sterbehilfe als Lebensanfang/Kindsmord, Alice Miller, Gewalt/Beziehungen/Rock'n Roll, Rudi Dutschke, die Erfinder des Narziß (Freud/Lacan/McLuhan), Narzißmus und Narkose, aufrechten Gang und Torpedokäfer (Franz Jung), Überleben und Aufschreiben, Canetti, Psychohistorik und Psychedelik, Timothy Leary, Zyklen und Spaltungen, Katastrophen, Velikovsky, RAF, R.D. Brinkmann, Vlado Kristl, Gravitation und Poesie, Kunst/Wissen/Technik/Macht, Lust/Verschwendung, Bataille, Künste und Körper, The Kinks, Poeten/Priester/Propheten/Liebende, Jimi Hendrix, die Erfindung der Oper, Monteverdi, Frauenverwertung, Gebärleiden europäischer Dynastien, Fürsten und Stars/Macht und Medien, Brecht, Liebe und Schreiben, Knut Hamsun, Gegessene Herzen, Summer of Love Florenz 1283, Dante/Beatrice/LSD, „Liebe„/Drogen/Techniken/Medien, Rilke, Diktate aus dem Jenseits, König Kamera/Fürst Bühne/ Führer Radio, Junggesellenkunst, Kafka, den Briefvampir, Foucault/Deleuze/Guattari, Hilda Doolittle/Ezra Pound/W.C. Williams, Selbstverzweigungen, Einsamkeit, Versagung und Aufladung, Maus Josefine, Orpheus Tod... - genug, es ist natürlich längst nicht alles.

In der Orpheus-Sage beten die Menschen (das Publikum) um eine Zugabe - ihrem Megastar Orpheus hat der Tod der Eurydice das Herz gebrochen und er singt nicht mehr - die Götter haben ein Einsehen und erlauben dem Sänger, in den Hades hinabzusteigen und seine Geliebte wieder zu holen, einzige Bedingung: er darf keinen Blick zurück werfen. Doch sie ruft ihn, und er dreht sich um... Aus Liebe? Theweleit bezweifelt das: Sie taucht dort hinunter, wohin kein Mann gehen kann: eine körperliche Jenseits-Diesseits-Schwelle (ins Land, wo man die Kinder herholt...und die Gedanken?). Er muß eine Verbindung dahin haben. So ist mir die Vermutung gekommen, es ist nicht aus reiner Liebe, sondern aus anderer Leidenschaft, daß Orpheus sich umwendet auf der Treppe, um in die Augen seines Weibs zu blicken. Möglicherweise tut er es, um sie dort unten zu halten, in einer Funktion, die für den Secret Service eine Funktion wie Unser Mann in Havanna hätte...ein wichtiger Pol im Jenseits-Speicher („Kommunikationsoffizier“), zu dem ein Draht zu ziehen wäre (...), Kabel zu einer der Hauptquellen des Wissens, Verbindung zu den geschichtsträchtigen Welten, Verbindung zu den Gefühlskomprimationen der Toten, die man zur Erzeugung künstlicher Wirklichkeiten braucht... Draht zu einer Hauptquelle der sog. Inspiration.

Nicht zu unrecht wird das Buch der Könige auch als Kriminalroman annonciert, denn es ist dieser („Mord„ -)Verdacht - die Verwandlung liebender ( unnützer) Frauenkörper in Bestandteile medialer Schaltungen zur Herstellung künstlicher (meist nützlicher) Wirklichkeiten

-dem Herkules Theweleit auf der Spur ist. (Auch wenn er es als Detektiv eher mit Chandlers Marlowe oder Spiegelmans Asshole halten mag, scheint die Anspielung auf Christies Poirot berechtigt: 3.000 Seiten Protokoll sind ein Herkules -Akt.) Die Schwierigkeit in diesem Fall liegt nun darin, daß die zur Fahndung ausgeschriebenen Täter, etwa die Herren Dante, Benn, Kafka, ihre Frauen nicht leibhaftig ermordet haben, genausowenig wie Orpheus, der ja „nur“ zurückgeblickt hat, daß aber ihre Taten (Gedichte, Erzählungen, Romane) in einer auffälligen Beziehung zu ihren Toten stehen verschwundenen, leibhaftig abwesenden Frauen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie ... als Schreibmaschinistinnen.

In diesem merkwürdigen Punkt kann Theweleit auf die Recherchen eines befreundeten Literatur-Detektivs zurückgreifen, auf Friedrich Kittlers „Aufschreibsysteme 1800/1900“ und „Grammophon, Film, Typewriter“ - eine eindrucksvolle Indizien-Kette der connections von dichtenden Typen und ihren Typistinnen. Bei diesen Verbindungen geht es um mehr als bloße Nützlichkeit (wie es bei dem gesamten Orpheurydice-Fall um mehr geht) als wieder mal die offene Tür „Männliche Genies auf dem Rücken geschundener Frauen“ einzurennen - „Unser Schreibzeug“, tippte 1882 der erste mechanisierte Philosoph der Welt, Friedrich Nietzsche, „arbeitet mit an unseren Gedanken“. Es ist nicht bloß Schreib-Kraft, die die ohnmächtigen Dichter bei den Frauen suchen, es ist die Verstärkung der Gedanken: Mit Techniken neuer Aufzeichnung/ neuer Wahrnehmung/ neuer technischer Verwandlung nicht verbunden zu sein, ist eine der Leib & Magenängste der Hersteller künstlicher Wirklichkeiten. Von etwa 1900 an kommt der inspirierende Kuß nicht mehr von der Muse, sondern von den Medien, der kunstproduzierende Mann geht keinen Liebesbund ein - „fürs Leben“, sondern einen Medienverbund - fürs Schreiben.

Als der nahezu erblindete Nietzsche nach einem Mann sucht, der die empfindliche Schreibmaschine („delikat wie ein junger Hund“) bedienen soll, wird ihm Lou Andreas Salome vorgestellt; er verliebt sich in sie, vergeblich, sie wird später eine der ersten Psychoanalytikerinnen. Eine neuer Beruf für Frauen, der wie der der Schreibmaschinisten eng mit den neuen Aufzeichnungstechniken verbunden ist: Zentrale männliche Institutionen gehen an beiden zugrunde: die Schreibmaschinistin schafft den männlichen Sekretär potentiell ab; den Schreiber/Privatsekretär vom Typ Eckermann, der Vertrauter des Meisters sein, ihn verstehen können muß, um es nachträglich aufzeichnen zu können. (...) Sie schreibt so schnell wie er spricht ... braucht nur ein gutes Ohr und ausreichendes Fingertraining. Die männliche Institution „Bildung“ wird nach Auftreten der Sekretärin ... niemals mehr sein was sie war: Geheimspiel zwischen zwei Männern gleichen „Niveaus„; Produktion eines exklusiven männlichen Paars. Eine andere Säule exklusiv männlichen Aufzeichnens fällt durch die Frauen, die bei Freud Psychoanalytikerinnen werden. (...) Hören ist eine der Tätigkeiten, in denen Frauen dem kulturellen Training nach, Männern überlegen sind. Wo Männer über Jahrhunderte gedrillt wurden, den öffentlichen Raum, den Raum des Handelns, der Gesetze der Sinnverkündung mit ihren Reden und Schriften zu füllen, waren Frauen auf Beobachtungs-, Zuhör, Wahrnehmungstätigkeiten verlegt. In ihrer ungleich besser entwickelten Fähigkeit des Zuhörens und anteilnehmenden Erinnerns liegt einer der Gründe für ihre Überlegenheit als Analytikerinnen. Und: Gute Analytiker sind in erster Linie gute Aufzeichner; Aufzeichnungsgeräte dessen, was Patienten von sich geben.

Daß heute in der taz die Medien-Redaktion manchmal „Mädchen -“ Redaktion genannt wird, scheint origineller als es aussieht: die Mädchen als Meisterinnen des Wahrnehmens, Aufzeichnens, Speicherns, waren nah dran an dem Stoff, aus dem die künstlichen Wirklichkeiten sind. Nimmt man als dritte Gruppe Schauspielerinnen/ Sängerinnen/ Tänzerinnen hinzu (Frauen, die darstellen, was Männer für sie geschrieben haben) hat man das Spektrum fast vollständig, in dem sich Liebesbeziehungen von Dichtern um 1900 und danach abspielen.

Wie das Schreibzeug an den Gedanken mitarbeitet, erfahre ich soeben am Bildschirm dieses „Olivetti M 10„-Computers, der nur 320 Zeichen abbildet und dazu zwingt - will man lästiges „Zurückspulen“ vermeiden - das Geschriebene im Kopf zu behalten, die ersten Zeilen dieses Satzes sind verschwunden, bevor er zu Ende ist. Und so weiß ich ohne einen Blick, daß das bisher Geschriebene viel zu lang geworden ist, die letzten Zitate stehen auf Seite 94, die über 1.000 folgenden Seiten sind noch kaum erwähnt, und auf den Seiten davor hat Theweleit schon den ersten Fall, Gottfried Benn, expliziert. Dargelegt, wie dieser Orpheus Gefühle, die er nie hatte, plötzlich (eine seiner Frauen ist gestorben) zu Gedichten komprimiert, wie er die „neuen Medien“ anzapft - eine Freundin mit 700 Anschlägen pro Minute, täglich Radio - und auf diesen Kanälen ins Ätherreich (der Toten und der Funkwellen) Stoff und Techniken für Gedichte saugt, die die Rock-Lyrics der 68er vorweg nehmen. (Um Benns dritte Äther-Connection, die Drogen, wird es erst im zweiten Band gehen.) Daß ich hier aus Platzgründen die Beweisführung Theweleits nicht ausplaudern kann ziemt sich für jede Krimi-Rezension - einem Uni-Germanisten, dem der Autor sein Manuskript vorlegte, schienen die Beweise „fliegenbeinschwach„; mich haben sie zuerst stutzen lassen, dann, im Verlauf der Parallel-Fälle und der vielen anderen Ebenen des Buchs überzeugt und zuletzt ziemlich überwältigt.

Nicht weil der Autor ein Meister im Lesen von Künstler -Biographien und Werken und ihrer suggestiven Montage wäre, sondern weil er eine Unmenge harter Fakten (Briefe, Tagebücher, (medien-)historische Hintergründe und nicht zuletzt die Kunstwerke selbst) für sich sprechen läßt, ohne sie, akribisch, den Detektivismus auf die Spitze treibend, durch zwanghafte Interpretation auf den Punkt zu zwingen: die Tote als Medium im Schreib-Spiel ist nicht an den Kabeln herbeigezogen.

Und auch nicht an den Haaren, wenn sie in vormechanischen, präelektrischen Zeiten an der Kunstproduktion beteiligt ist. Claudia Cattaneo ist um 1600 eine der ersten Frauen in einer neuen öffentlichen Funktion: als „Hofsängerin“ löst sie auf der „weltlichen“ Bühne, die Kastraten ab und bietet, was bis dahin nur in klösterlicher Abgeschiedenheit erklang: weiblichen Gesang. Es entstehen erste Kompositionen, die nur Frauen singen können, ein neues Ausdrucksmedium, das Musikdrama, beginnt sich zu entwickeln, wieder sind die Mädchen mehr als nah dran am neuen Medium. Nach der Ehe mit dem Hofkapellmeister Claudio Monteverdi muß Claudia ihre Tätigkeit aufgeben, sie wird krank und siecht dahin, ihr Mann komponiert unterdessen das „Höfische Festspiel mit Musik“ l'Orfeo - die erste wirkliche Oper der Welt. Claudia überlebt die Premiere um ein paar Monate, sie war nicht vorgesehen als Sängerin der Eurydice oder eines anderen Parts - Monteverdi führt, neben einer neuen Kompositionstechnik - Solostimmen (deren Text man versteht) und Generalbaß - Affekte, die erregte, deklamatorische Gesangsweise, als Neuerungen ein, und spezielle Effekte: die Nymphe Echo simuliert 1607 ein Grammophon, Orpheus ruft nach Verstärkung (einer E-Leier!) und auf seinem Weg aus dem Hades begleitet ihn erstmals ein „gehender Baß“. (Die Jazzer führten ihn als walking baß 40 Jahre lang in alleiniger Gottesfunktion... Nicht er und Eurydice werden das Paar, das „das Licht“ erreicht, sondern er plus der „gehende Baß“.)

“...daß man sich begierig den Genuß begehrter Dinge verschafft, die außerhalb des Selbst liegen,“ definiert 1890 Knut Hamsun die Art der Sinneswahrnehmung, die zu dem „neuen Schreiben“ nötig ist, mit dem er beginnt, als seine Auserwählte mit einem Telegraphisten durchbrennt. Und „außerhalb des Selbst“, d.h. nur medial erreichbar, sind auch die Eindrücke, aus denen Dante in einem Aufbruchssommer des Mittelalters Revolution in der Buchstabenwelt macht, das Wort von Gottes Verkündigung in abendländische Literatur transformiert: 1000 Jahre kirchliche Askese gehen, zugespitzt gesprochen, unter in Woodstock 1283; die E -Gitarre ist in den Händen der Dichter; der sexualisierte Sound ist aus Wörtern, die sich aus Wellen speisen, die von Frauenkörpern ausgehen. Es ist (natürlich) eine tote Frau, die Dantes Wörter über Erregungen und Sensationen hervorruft - Ekstasen, die sich bis dato bei Jesus und Maria (oder höfischen Minneritualen) bedienen mußten, die aber von jetzt an der säkularisierte, sexualisierte Blick auf die „öffentliche Frau“ erzeugt. Roll over Beethoven/and tell Tchaikovsky the NEWS forderte 1956 der scharfsinnige Chuck Berry, wissend, was verlangt war: eine Blickverschiebung. Komm rüber, Vergil, und sag Augustinus, wo's lang geht... sag es Aquinus, sag es dem Papst... and tell Bocaccio the NEWS, fordert Dante: eine Blickverschiebung, eine Sprachverschiebung, eine Verschiebung im Verhältnis der Geschlechter ... ein „komm rüber“, das nicht geklappt hat bis jetzt... das immer ein „bleib drüben“ geworden ist, bis auf Momente ... die Momente, in denen, in denen his/story und her/story noch nicht umgeschaltet waren zu einer medialen Apparatur, die die „neue Wirklichkeit“ erzeugt und die eingebauten Frauen als Abfall... die Momente der Summers of Love, die nicht aufgehört haben zu erscheinen... es kommt wieder einer.

Wie etwa der knapp 700 Jahre später, als ein neuer „Dante“ in Amerika erscheint, dieses Mal nicht als Worträusche entfesselnder Dichter, sondern als Harvard-Professor Timothy Leary, der sich als Kommunikationsoffizier in den Dienst eines neuen Mediums stellt: der Bewußtseinserweiterung durch LSD. Auch diese Verwandlung, vom midlife-kriselnden Wissenschaftler zum Held der Hippie-Bewegung, geschieht im Hades: der Garage, in der sich seine Frau Marianne umbringt. Aus ihrer Verwandlung (in eine Tote) kommt seine Verwandlung (in einen, der die Welt antörnen möchte, daß sie nicht stirbt).

Der Pionier der Literatur (1300), der Pionier der Oper (1600) und der Pionier der Bewußtseinserweiterung (1960) verwandeln sich (wie auch die Benns, Hamsuns, Kafkas) in Könige erst durch ein „Damenopfer“ - so telegrammartig nacherzählt wie hier mag diese These ebenso gewaltsam scheinen wie als banales Klischee: Daß für die Kunst „Opfer“ gebracht werden müssen, daß Grenzen überschritten, in gefährliche, dunkle Bereiche vorgestoßen sein muß, wer andere künstliche Wirklichkeiten schaffen will, daß Künstler als Kraken und Vampire ihre Umgebung aussaugen - all das ist nichts Neues. Genausowenig, wie die Frage nach dem „Warum“ dieser Art von Kunstproduktion unter der Käseglocke Patriarchat/Sadismus/Unbewußtes klären. Neu allerdings sind die Antworten, die Theweleit darauf gibt: daß es sich bei diesen Kopfgeburten um einen technischen Vorgang handelt, der auf einer durch Medien/Mädchen erweiterten Sinneswahrnehmung beruht. Ich kann mir vorstellen, daß diese These auf Kopfschütteln stößt, zumal bei den hiesigen linken Vordenkern, die den Theoretiker des Kommunikations -Zeitalters, McLuhan, seit zwanzig Jahren beharrlich ignorieren. Statt dessen wird im Philosophie-Laden eine zur „Theorie der kommunikativen Kompetenz“ aufgeblasene Bauernweisheit als Spitzenprodukt geführt, wenn von „neuen Medien“ die Rede ist, ist Kommerzfernsehen gemeint, und daß das die „Botschaft“ sein soll - igitt. (Mehr als die Parole „Das Medium ist die Botschaft“ ist von McLuhan nicht hängengeblieben.)

Für Theweleits Theorie der medialen Kompetenz sind zwei Grundaxiome McLuhans von fundamentaler Bedeutung: 1. Unter „Medien“ ist alles zu verstehen, was als Erweiterung des menschlichen Körpers angesehen werden kann - das Rad ist die Erweiterung des Fußes, der Spiegel des Auges (vor Efindung der Schrift), das Radio des Ohres usw. 2. Menschen benutzen Medien, um den Zustand des Eins-Seins, der Identität, näherzukommen, sie erfinden sie zu diesem Zweck. Auf diesem Hintergrund rehabiliert Theweleit einen „übel beleumdeten Asozialen“, der als „neuer Sozialisationstyp“ massenhaft durch die Welt geistert: Narziß. Mit McLuhan führt er Narziß als einen vor, der nicht verliebt ist in sich selbst, sondern in seine Apparate, Narziß kommt vom griechischen narkosis (Betäubung), er ist betäubt von den neuen, seinen Körper ausweitenden, Medien (im Mythos Schall und Spiegel), so fasziniert, daß er zum Servomechanismus wird. Er ist eingetunt auf die magischen Kanäle, aber er benutzt sie schlecht, aus Faszination und Liebeskummer - so wie der Narc, der Drogennehmer, sein Medium servomechanistisch zur Betäubung verwenden kann, oder es (wie Baudelaire, Benn, Burroughs et al.) als Wachstumsmittel gebrauchen. Erst wenn er in all diese Spiegel geblickt hat, all diese Echos probiert, diese Werkzeuge und Pinsel in die Hand genommen, diese Saiten zum Klingen gebracht hat wird aus Aff Narziß Mensch Narziß. Das ist die Evolution: Gebrauch neuer Techniken. „Biologisch“ evolutioniert sich gar nichts. Das war schon 1620 bekannt und ist es heute (dank Darwin) längst nicht mehr. Der schrecklichste Mißgriff des 19. Jahrhunderts: die Abdankung der Schöpfungsidee auf ein biologisches statt auf ein technisch-artifizielles Fundament zu stellen. Die Kinder der Folgen sind wir. Statt technischer Verfahren bekamen wir die Herrenrasse in Gottfunktion. Als Brave Kinder der Herrenrasse-Eltern glauben „wir„ (grün wie wir sind), immer noch daran, uns mit „Natur“ vor Faschismus schützen zu können (statt endlich zu realisieren, daß nur Techniken den Faschismus werden abschaffen können... nicht „Kernspaltung“ (selber ein Monstrum aus dem biologistischen Denken ... andere Techniken ... Techniken, Kunst zu machen...(Die Wirklichkeit: jeder 2.Alternative hat es ernsthaft mit der Astrologie ... diesem Affencomputer. Amen.)

Ein schönes Schlußwort wäre das, immerhin habe ich mich bis Seite 936 , von der dies stammt, durchgemogelt und mit einem Schlag ins Kontor der anti-technischen Bio-Reaktionäre zu schließen hätten sie allemal verdient. Aber die „Was fehlt„ -Liste auf meinen Zetteln ist einfach noch zu lang. Zu jedem der am Anfang erwähnten Namen und Komplexe wären Geschichten zu erzählen, die nie nahtlos, aber immer irgendwie und genau hineinpassen in das Netzwerk des Königs-Schaltplans. Dies ist nicht nur ein grundlegendes Buch über die Geburten von Kunst, sondern auch eines über die Geburten von Geschichte, von Beziehungen, Verzweigungen, Spaltungen, Bewegungen (die toten Ulrikes und Gudruns!), über Zyklen, Rhythmen und Moden und über das grundlegende Erden-Spiel: Männlich/Weiblich. Und darüber, daß, wo Geschichte war Kunst werden muß (wenn es überhaupt noch was werden soll) und diese Verwandlung ohne Geburtshilfe durch die Frau nicht funktionieren kann. Faktische Menschenopfer freilich müssen dafür nicht mehr gebracht wären, Marianne Leary könnte die letzte gewesen sein, die durch ihren Tod einem King auf die Sprünge half sein Medium ermöglicht fortan jede Art von Hades-Kontakt, bis hinunter in das zellurare Bewußtsein der Materie. Wolfgang Neuss hat diese Revolution der Wahrnehmungs-Technik so ausgedrückt: „Man kann heute sterben und anschließend in die Disco.“ Oder ein Gedicht schreiben.

Daß King Learys Queen nicht die letzte Tote sein wird, ahnte sein Medienberater McLuhan 1966, auf dem Höhepunkt des Kampfs um die LSD-Kontrolle, voraus: „Du wirst den Krieg gewinnen. Doch du wirst die protestantische Ethik nicht ein paar Jährchen umstoßen. Diese Kultur weiß, wie man Schmerz und Leiden verkauft. Drogen, die den Geist beschleunigen, werden nicht akzeptiert werden, bis die Bevölkerung sich auf Computer eingestellt hat.“ Sie hat sich noch nicht darauf eingestellt, ist noch betäubt und fasziniert (oder geängstigt)von den Effekten (und startet auch gerade mal wieder eine Drogen-Offensive als Sündenbock-Gefecht).

Wie man Schmerz und Leiden verkauft wissen, aber auch die wissenschaftlichen Aufklärungswächter, und ob die Theweleits These, daß Kunst nicht aus Versagung sondern aus Aufladung kommt, akzeptieren, oder wie sie sich drum rum drücken (indem sie das Ganze, völlig zurecht, als äußerst anregendes, gut geschriebenes, toll bebildertes, sehr preiswertes Buch loben - aber sonst nix) - da wird der eine oder andere Eiertanz ins Haus stehen. Denn anregend ist das Buch der Könige weil es grundlegend ist: Eine Variante! (werden manche sagen) und fortfahren in der Abfassung von Aufsätzen über Die begrenzte Relevanz des Geschlechtsunterschiedes („mit dem Pimmel getippt“). Wo ist das Wissen vom Funktionieren der Geschlechtsunterschiede, das solchen Grenzziehungen auch nur den Hauch eines Wirklichen verliehe? Es ist nicht vorhanden. Vorhanden aber ist ein pulsierendes Spannungsfeld, das diese Pionier-Arbeit (und die Erweiterungen, die ihr, hoffentlich bald, folgen) eröffnet, eine Metaphysik der Medien, die (revolutionär!) gänzlich unmetaphysisch ist, denn: die Medien gehören dazu, zum Körper, zu uns. Und wie jede umwerfende neue Idee bestätigt auch die, die der Postbote für nicht angekommene Posten Klaus Theweleit uns bringt, uralte Wahrheiten. In diesem Falle die, daß es Mann und Frau hienieden nur aus einem einzigen Grund gibt: Damit keine Langeweile aufkommt.

Klaus Theweleit: Buch der Könige - Orpheus und Eurydice, Verlag Roter Stern 1988, 1220 Seiten, 38 DM

1989 ff. folgen:

Band 2: BENN - Dr.Orpheus am Machtpol (Benn meets Hitler, Elvis meets Nixon, Klaus Mann meets Exile. „Innere“ und „äußere“ Emigration. Geschichtsloch und Medien), voraussichtlich 500 S.

Band 3 FREUD - Prof. Orpheus-Ohr (Wie Freud Columbus wird. Der Krieg der Psychoanalyse mit den neuen Aufzeichnungsmedien. Hitchcock, Godard) voraussichtlich 700

Band 4 CELINE - In Charons Nachen (Die Ärzte, Jesus und die Macht, Ludwig XIV. und die Welthygiene, Wilhelm Reich, Celines und Pounds Antisemitismus, Thomas Pynchon - Die Rakete - Orpheus Landung) voraussichtlich 800 S.