Cogito ergo bumm

■ Panajotis Kondylis „Theorie des Krieges“

Bruno Preisendörfer

Anfang der achtziger Jahre hat der englische Sozialhistoriker E.P. Thompson mit seinem Aufsatz „Exterminismus“ als letztes Stadium der Zivilisation in den westeuropäischen Ländern friedenspolitisch Bewegung gemacht. Der Aufsatz, dessen Titel sarkastisch auf Lenins Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus anspielt, beschreibt die rasante, kaum mehr durchschaubare Entwicklung moderner Waffentechnologien als selbstlaufenden Prozeß, der weder mit Entlarvung imperialistischer Interessen noch mit Verweisen auf die kapitalistische Logik der Profite ausreichend zu erklären ist. Die Dynamik der Abschreckung zwischen den Blöcken führe - verschärft durch die Funktionsnotwendigkeiten unkontrollierbarer bürokratischer Apparate auf beiden Seiten - zur permanenten Forcierung militärtechnischer Innovationsprozesse und auf lange Sicht zur globalen und abschließenden Vernichtung der Waffensysteme auf dem Wege der Vernichtung der Welt. Dieser „exterministische“ Selbstlauf setze herkömmliche Muster der Machtpolitik zwischen den Staaten außer Kraft: „Die heutige Militärtechnologie löscht jedes Element von 'Politik‘ aus.“

Mit diesem Satz nimmt Thompson noch einmal die alte Vorstelllung vom Krieg als Mittel der Politik auf und erklärt sie für geschichtlich überholt. Ihre klassische Ausprägung hatte diese Vorstellung im kriegsphilosophischen Denken des preußischen Generals Clausewitz gefunden. In seinem Buch Vom Kriege, das unter dem Eindruck der außerordentlich erfolgreichen Heere Napoleons entstanden ist, wird Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln aufgefaßt.

Die richtige Interpretation dieses Satzes ist bis auf den heutigen Tag heftig umstritten. In diesen Streit tritt Panajotis Kondylis mit einer gelehrten, aber trotz gelegentlicher Umständlichkeit spannend zu lesenden Studie ein. Ihr Titel Theorie des Krieges. Clausewitz - Marx Engels - Lenin.

Kondylis geht sofort in medias res und widerlegt die liberalen und „humanitären“ Lesarten des berühmten Diktums von Clausewitz, das keineswegs normativ zu interpretieren sei, etwa in dem Sinne, daß die Politik den Krieg zu „hegen“, zu „mäßigen“ oder zu „humanisieren“ habe. Clausewitz‘ Satz ist kein moralischer Appell zur Mäßigung kriegerischer Kampfhandlungen, sondern er bringt die theoretische Überzeugung zum Ausdruck, daß der Krieg Bestandteil einer als permanenten Kampf um die Macht aufgefaßten Politik ist, nur eine - wenn auch besonders entscheidungsgeladene - Form politischen Handelns. Zwischen „Krieg“ und „Politik“ besteht kein Bruch, sondern herrscht Kontinuität. Der Krieg ist nicht Ausnahmezustand im Feld des Politischen, sondern eine im „Idealfall“ auf das entscheidende Gefecht konzentrierte Intensivierung des Politischen. Oder noch deutlicher formuliert: der Krieg ist die wahre Gestalt der Politik.

Kondylis bleibt aber nicht bei der Rekonstruktion der als „existentialistisch“ kennzeichenbaren und anthropologisch motivierten Auffassung des Kriegs bei Clausewitz stehen. Auch die drei anderen im Titel seines Werkes genannten Autoren werden in die Tradition einer von moralischen Erwägungen theoretisch unbeirrt bleibenden politischen Theorie des Krieges gerückt, wie sie - Kondylis zufolge Clausewitz inauguriert hat. Die weit verstreuten und von ihnen selbst niemals systematisch zusammengeführten kriegs und militärtheoretischen Schriften von Marx und Engels fügen der „anthropologischen und kulturphilosophischen Begründung der Kriegstheorie“ bei Clausewitz die soziologische und historische Dimension hinzu, die für den preußischen General keine Rolle gespielt hatte. Lenin wiederum bezieht sich in seiner Theorie von Krieg und Bürgerkrieg auf Clausewitz und die „Väter des historischen Materialismus“ gleichermaßen. Allen drei Autoren ist gemeinsam, daß sie Krieg innerhalb ihres geschichtsphilosophischen Denkens „rein zweckrational“ betrachten: „Kriege und Gewalt im allgemeinen“, so faßt Kondylis diese Haltung zustimmend zusammen, „können zu den großen geschichtlichen Triebkräften gehören, so daß ihre moralische und pauschale Verurteilung bloß politischer und moralischer Ahnungslosigkeit und Naivität entspringen muß.“

Indem Kondylis die Schriften dieser Autoren einer philologisch und analytisch genauen Interpretation unterzieht, stellt er in einem hermeneutischen Durchgang gleichzeitig geistesgeschichtliche und logische Zusammenhänge her. Die während der einzelnen Phasen dieses Weges erarbeiteten Begriffe werden schließlich in Exkursen („Zivil und Militär„; „Vernichtungskrieg, totaler Krieg, Atomkrieg“ - die Begriffe meinen keineswegs das Gleiche; „Krieg und marxistisch-leninistische Geschichtsauffassung„; „Die sowjetische Militärdoktrin“) auf ihre Fruchtbarkeit für das Verständnis vergangener Kriege und neuer strategischer Konzepte geprüft.

In diesen Exkursen erweisen sich nun die Vorzüge und Nachteile seiner textanalytischen Methode. Keine noch so genaue Explikation, kein noch so gelehrter Kommentar des berühmten Satzes von Clausewitz ist in der Lage, die am Anfang dieses Artikels beispielhaft mit Thompsons „Exterminismustheorie“ (die bei Kondylis übrigens nicht vorkommt) erläuterte technologische Liquidierung des ehemals wesentlich politischen Charakters des Krieges wegzudiskutieren. Mittel der Begriffsanalyse reichen nicht aus, historischen Veränderungen gerecht zu werden, denn die Geschichte richtet sich nicht nach Begriffen, sondern die Begriffe haben sich nach der Geschichte zu richten. Die hier exemplarisch angeführte Diagnose von Thompson, die durchaus kritisierbar ist, kann auf der Ebene, auf der Kondylis argumentiert, nicht thematisiert, geschweige denn abgewiesen werden. Weil Kondylis auf dem Wege der Textinterpretation den überzeitlichen politischen Wesensgehalt des Krieges definitionsmechanisch beharrlich verteidigt, verwandeln sich bei ihm die Begriffe in leere Schachteln, die variantenreich gestapelt werden können, zum Verständnis der Gegenwart aber nicht mehr nützlich sind. Der von einer Anthropologie des Entscheidungskampfes abgeleitete Begriff der Politik bei Kondylis ist dem technologischen Krieg diagnostisch einfach nicht mehr gewachsen, der moderne Charakter der Politik als höhere Verwaltungstätigkeit einerseits und als mit symbolischen Mitteln verfahrende Zustimmungsbeschaffungskunst andererseits tritt in den Horizont seiner Denkbewegungen überhaupt nicht mehr ein.

Das kriegsphilosophische Werk von Kondylis hat aber auch seine Vorzüge. Es zwingt zu einer Reflexion dessen, was wir unter Krieg und Frieden jeweils verstehen, welche Mittel zur Erreichung und Bewahrung des Friedens wir für erlaubt und welche wir für erfolgreich halten. Vor allem könnte es helfen, über das innerhalb der Friedensbewegung zum Tabu gewordene Thema „Frieden um jeden Preis“ und über die eurozentrische Borniertheit unseres Verständnisses von Frieden nachzudenken. Wer sich die Mühe einer aufmerksamen Lektüre dieses Buches unterzieht, kann Lehren gewinnen für die Arbeit an einer Philosophie des Friedens jenseits einer zwar bequemen, aber - wie die jüngste Geschichte gezeigt hat - leicht ausmanövrierbaren, bloß friedliebenden Verlautbarungsmoralität.

Panajotis Kondylis: Theorie des Kriegs. Clausewitz - Marx Engels - Lenin. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1988, 328 Seiten, gebunden