Universum Endlosschleife

■ In den Schwarzen Löchern des Weltraums ist ein Raumfahrer im Rollstuhl dem "Plan Gottes" auf der Spur - Stephen W. Hawkings "Kurze Geschichte der Zeit - Die Suche nach der Urkraft des Universums"

Ein rätselhafter Fall. Der Autor dieses Buchs hat keine Stimme mehr und kann nur noch wenige Muskeln kontrollieren. Mit 21 begann er zu stolpern, mit 30 zwang ihn ALS - eine seltene Krankheit des motorischen Nervensystems - in den Rollstuhl, vor drei Jahren wurde ihm die Luftröhre entfernt, er atmet durch ein Loch in der Kehle, der Speichel fließt unkontrolliert - doch weiterhin hält der 46-jährige Stephen W.Hawking seine Physik-Vorlesungen an der Universität Cambridge. Der Inhaber der „Lukasianischen Professur“, die vor ihm Größen wie Isaac Newton und Paul Dirac bekleideten, bedient sich eines elektronisch steuerbaren Rollstuhls und eines Sprachcomputers. Jeden Donnerstag referiert eine synthetische Stimme, was der Professor zum Thema seiner Vorlesung - das auch der Gegenstand dieses Buches ist - dem Computer eingegeben hat: „Ein kurzer Abriß zur Geschichte des Universums“.

Die unermeßliche, für den irdischen Verstand schwer faßbare Weite seines wissenschaftlichen Fachgebiets, der Kosmologie, und die unter das natürliche Existenzminimum geschrumpfte „Enge“ seines Körpers - diese persönliche Konstellation hat Stephen Hawking zu einem lebenden Mythos gemacht. Der 'Spiegel‘ preist ihn als ein „Jahrhundertgenie wie Albert Einstein“, für die 'Zeit‘ ist „das Genie im Rollstuhl im Begriff, die Formel zu finden, die das Universum erklärt“, und in den USA, wo wie in England die „Brief History of Time“ die Sachbuch-Hitlisten anführt, raunt das 'Time' -Magazin: „Er ist an den Rollstuhl gefesselt und bedarf ständig der Hilfe anderer. Aber sein Geist durchdringt die unermeßliche Weite von Raum und Zeit, um dem Universum die letzten Geheimnisse abzuringen.“

Daß man dem Manne zuschreibt, tatsächlich die ultimativen Rätsel unserer Existenz zu lösen, hat weniger mit journalistischer Hochstapelei zu tun als mit dem blinden Glauben in das, was Hawking nicht müde wird zu verkünden: Daß nämlich die Chance, bis zum Ende des Jahrtausends eine große vereinheitlichte Theorie des Universums zu vollenden, etwa 50 zu 50 stehe. Ein „normaler“ Wissenschaftler, der solches ankündigt, liefe Gefahr, als donquichottischer Spinner oder hoffnungsloser Optimist verschrien zu werden, dem entkörperten Superhirn aber traut man die übermenschliche Leistung, dem Plan Gottes die entscheidende Formel abzuluchsen, offenbar zu. Was hätte eine solche Great Unified Theory (GUT) zu leisten? Sie müßte die zwei großen Errungenschaften der neuzeitlichen Physik - die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik - vereinen, die bisher wie die zwei Königskinder nicht zusammenfinden können. Das Wasser scheint unüberwindbar tief: jede Theorie für sich liefert eine korrekte Grundlagenbeschreibung des Universums - die Relativitätstheorie für die Schwerkraft (Gravitation) und den makroskopischen Aufbau des Universums, die Quantenmechanik für den mikrokosmischen Bereich der subatomaren Materieteilchen -, aber beide zusammen können nicht richtig sein. Spätestens seit 1927, als Heisenberg entdeckte, daß die Bahn eines Elektrons erst dadurch entsteht, daß man nach ihr Ausschau hält und die Elementar -Teilchen im subatomaren Bereich in einer Art Wahrscheinlichkeitswolke existieren und erst dann einen festen Platz einnehmen, wenn ein Beobachter bewußt mit ihnen in Wechselwirkung tritt.

Schon das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum, in dem Einstein die für den Menschenverstand strikt getrennten drei Dimensionen des Raums und die der Zeit zusammenfügte, war nur mit gehöriger Gedankenakrobatik zu bewältigen gewesen. Daß das Universum nirgendwo einen absoluten Fixpunkt besitzt, daß alle Teilchen, Planeten, Sterne, Milchstraßen und wir selbst sich ihn Bahnen bewegen, die sich nur in ihrer Wechselwirkung beschreiben lassen, daß Uhren langsamer gehen, wenn sie an bewegten Objekten befestigt sind, daß Maß -Stäbe in Bewegungsrichtung schrumpfen und daß Astronauten, die mit 270.000 Kilometern in der Sekunde durchs All rasen, wenn sie nach 10 Erdenjahren zurückkommen, selbst nur 5 Jahre gealtert sind - all diese Implikationen der Relativitätstheorie schienen harmlos, verglichen mit dem, was die experimentellen Beweise der Quantenmechanik dem Menschenverstand vorsetzten: Ein Elektron erscheint sowohl als Teilchen als auch als Welle (in Zuständen, die sich gegenseitig ausschließen), je nach dem, was der Beobachter zu sehen beliebt. Das Innerste der Materie offenbarte sich als dynamische Struktur ohne isolierte Einheiten, als springendes, hüpfendes Netzwerk, in dem nicht die Gesetze klassischer Mechanik, sondern lockere Wahrscheinlichkeiten das Geschehen regieren und wo nicht jeder Wirkung eine Ursache vorausgeht. Dieser Zusammenbruch der Objektivität, der Einbruch des Zufalls in die exakte Wissenschaft, ließ Einstein Kopf stehen, die Anerkennung der Quantenmechanik war für ihn gleichbedeutend mit „der Aufgabe des Konzeptes der Realität in der Physik“, und er stellte die berühmte „bange Frage“, ob Gott wirklich würfelt. Bis an sein Lebensende arbeitete Einstein daran, seinen Traum einer großen „Vereinigten Feldtheorie“ zu realisieren, die alle Unklarheiten beseitigen sollte - vergeblich. Seitdem haben sich Legionen von Wissenschaftlern die Köpfe daran zerbrochen, um hinterher jedesmal festzustellen, daß das Ergebnis zwar ganz schön, aber doch nicht GUT, keine Great Unified Theory, ist. Daß es Stephen Hawkings „Quantentheorie der Gravitation“ mit der Wahrscheinlichkeit fifty/fifty in den nächsten zwölf Jahren anders ergeht, scheint, quantenmäßig gesprochen, ziemlich unwahrscheinlich. Wenn er aber doch fündig werden sollte, hat es wahrscheinlich damit zu tun, daß er an der richtigen Stelle gesucht hat. Der Ort, an dem er die letzten Rätsel des Universums entschlüsseln will, scheint für die Entbergung von Geheimnissen denkbar ungeeignet - und ist vielleicht gerade deshalb prädestiniert. Es handelt sich um mysteriöse Gegenden des Weltalls, von denen man nur weiß, daß dort etwas Merkwürdiges im Gange ist, aber nicht, ob es sie tatsächlich gibt, denn sie sind unsichtbar. Hawkings Lehrer Roger Penrose hat Anfang der 60er Jahre eine Theorie darüber erarbeitet, und John Weeler prägte 1969 den bis heute vielversprechenden Namen: Schwarzes Loch.

Bevor Stephen Hawking die Leser an sein Spezialgebiet, die Schwarzen Löcher, heranführt, liefert er, was der Titel verspricht: Eine kurze Geschichte des Universums, erzählt anhand der Erkenntnisse, die die Menschheit im Laufe der letzten 2.500 Jahre über das Weltall gesammelt hat - von Aristoteles und Ptolemäus über Kopernikus, Galilei und Newton zu Einstein und den Quantenphysikern. Dem Rat, daß „jede Gleichung im Buch die Verkaufszahlen halbiert“, ist Hawking gefolgt und hat , abgesehen von Einsteins geflügeltem „e mc2“ auf jegliche Formeln verzichtet. Dies ermöglicht es auch Nicht-Mathematikern, der Wissenschaftsgeschichte der Kosmologie zu folgen und sich sodann mit dem Raumfahrer im Rollstuhl auf den Trip zu den Schwarzen Löchern und zurück in die Geburtsstunde des Universums zu begeben. Das ist nicht immer locker und mühelos nebenbei zu bewältigen, aber allein schon Lesbarkeit und Verständlichkeit können, bei der maximalen Komplexität des Themas, gar nicht hoch genug angerechnet werden. Es ist Hawkings großer Verdienst, dem breiten Publikum ein im Wortsinn weit abgelegenes (aber gleichwohl existenzielles) Thema auf nachvollziehbare, spannende und manchmal witzige Weise nahegebracht zu haben. „Alle, Philosophen, Naturwissenschaftler und Laien, sollen sich nämlich mit der Frage auseinandersetzen, warum es uns und das Universum gibt. Das wäre dann der endgültige Triumpf der menschlichen Vernunft.“ Auch wenn man, angesichts der katastrophalen Endgültigkeit menschlicher Vernünftelei mit triumphaler Euphorie etwas zurückhaltender umgehen sollte, der Frage, die Hawking gestellt sehen will, ist nichts hinzuzufügen. Bis auf die Fragen, die auch nach seinen Antworten offen bleiben.

Ein Schwarzes Loch ist ein Gebiet im Raum, das absolut schwarz erscheint, weil die Gravitation dort so stark ist, daß ihr nicht einmal das Licht entkommen kann. Es entsteht, wenn ein ein großer Stern, nach den Vermutungen der Astronomen muß er mindestens die dreifache Größe unserer Sonne haben, zusammenstürzt und dabei einen Masse unvorstellbarer Dichte bildet. Diese dichte Masse - ein Berg zusammengedrückt auf die Dimension eines Atoms - erzeugt ein Schwerefeld, das stark genug ist, alles in seiner Nähe an sich ziehen und nichts entkommen zu lassen. Die Grenze des Schwerefelds ist der „Ereignishorizont“, jedes Objekt, das diese Grenze überschreitet, wird vom Zentrum des Schwarzen Lochs, der sogenannten „Singularität“, angezogen und aus seiner Existenz gequetscht. In der Singularität des Schwarzen Lochs verschwinden Raum und Zeit, die Naturgesetze verlieren ihren Sinn. Hawkings kam auf die Idee, daß, wenn ein riesiger Körper zu einem Punkt zusammenfällt, dort die Gesetze des Mikrokosmos - die Quantenmechanik - herrschen müßten, und er berechnete, mit welcher Wahrscheinlichkeit es kleinen Teilchen am Rand des Schwarzen Lochs gelingen könnte, über den Ereignishorizont zurück zu hüpfen. Seine Berechnungen wurden experimentell bestätigt, tatsächlich scheinen die Schwarzen Löcher Energie zu emittieren, die man nach ihrem Entdecker „Hawking-Strahlung“ benannte. Dafür gab es bisher keinen Nobelpreis, doch daß das Leuchten des Schwarzen Lochs durchaus preiswürdig sein könnte, dafür legt Hawking mit seinem Buch Zeugnis ab.

Wenn Schwarze Löcher etwas emittieren, macht das der schönen Science-Fiction-Idee, daß der auf das Volumen Null gequetschte Astronaut im Universum nebenan wieder ausgespuckt wird, ein Ende. Die Energie, die der mutige Raumfahrer mit seinem Körper dem gefräßigen Loch zuführt, verschwindet nicht einfach irgendwo, sie bleibt erstmal drin, um dann, in winzigen Quantenportionen, langsam wieder ausgestrahlt zu werden. Durch ein solches Nadelöhr, so Hawkings These, muß das gesamte Universum regelmäßig durch. Zur Zeit befindet es sich in einem Zustand der Ausdehnung, doch wenn es sich nur weit genug ausgedehnt hat, wird es sich wieder zusammenziehen und verschwindet letztlich in einem gigantischen Schwarzen Loch, um (vom totalen Chaos neu gemischt) mittels Hawking-Strahlung wieder eine neue Runde zu durchlaufen. Dieses Spiel hat keinen Anfang und kein Ende, es ist ein abgeschlossenes, endliches System, das keine Grenzen hat und keinen Gott braucht. Der Urknall ist nach Hawkings Vorstellung nicht der Anfang des Weltalls, sondern nur ein Engpaß auf der geschlossenen Raumzeit -Schleife des Universums. Indizien dafür, daß nicht eine chaotische Explosion am Anfang stand, sieht Hawking in der merkwürdigen Gleichmäßigkeit, mit der sich das Universum darstellt: Es sieht, egal von wo die Astronomen es betrachten, immer gleich aus, es wächst mit konstanter Geschwindigkeit, und die kosmische Hintergrundstrahlung ist in allen Himmelsrichtungen diesselbe. Doch damit hat die Beweiskette Hawkings auch fast schon ein Ende. Daß sich der Weltraum irgendwann zusammenziehen wird, ist Spekulation, ein Schwarzes Loch, das verschwindet, weil es gerade seine letzte Beute ausgehaucht hat, wurde noch nicht entdeckt, und was ein Universum, „völlig in sich abgeschlossen und keinerlei äußeren Einflüssen unterworfen ... weder erschaffen noch zerstörbar“, von einem Perpetuum Mobile unterscheidet - an diese dumme Frage verliert das stumme Genie keinen Gedanken. Achtzehn mal wird, nach dem Register des Buchs, Gott zitiert, Hawking setzt sich damit so ausführlich auseinander, weil er meint, daß für den alten Herrn in seinem Universum kein Platz wäre. Der Frage nach dem Koch der Ursuppe, der irgendwann die Raumzeit-Endlos -Schleife angerührt hat, stellt er sich allerdings genausowenig wie dem Problem, wie sich das geschlossene System Weltraum denn ohne Energiezufuhr von außen entwickeln soll.

Ausschließlich die bekannten Naturgesetze sollen in Hawkings Universum gelten und ihre noch zu findende Formel soll alle Unklarheiten einschließlich Gott beseitigen. Doch um das zu erreichen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als für den Zusammenfall des Weltalls eben diese Naturgesetze außer Kraft zu setzen: in der Singularität des Schwarzen Lochs, die das Universum periodisch recycelt. Der Plan, dem Detektiv Hawking im Auftrag der Agentur Kritischer Rationalismus hinterherhechelt, dürfte also allem Anschein nach so aussehen: §1)Die Naturgesetze gelten immer - §2)Wenn die Naturgesetze nicht gelten siehe §1. Nun wäre es ja keine unsympathische Vorstellung, daß sich das Universum irgendwann als kosmischer Bürowitz offenbart. Wenn es aber anders aussehen sollte, ist auf jeden Fall der Lacher künftiger Kosmologen garantiert, die sich wundern, daß man anno 1988 tatsächlich glaubte, auf diesem Niveau die „Rätsel der Existenz“ zu lösen, daß man unsichtbare Schwarze Löcher im Kosmos untersuchte, und die Schwarzen Löcher im naturwissenschaftlichen Denkgebäude auf der Erde gar nicht weiter beachtete. Zum Beispiel die nach hinten losgegangene „Weltformel“, die John Bell 1964 fand, als er Einsteins Einwände gegen die Quantenmechanik mathematisch untermauern wollte: „Bells Theorem“ (das nicht falsch sein kann, ohne daß die gesamte Mathematik hinfällig wird) beweist, daß jedes Teil des Universums in Kontakt mit jedem anderen Teil steht, und daß dieser Kontakt unmittelbar hergestellt wird, die Kommunikation ist schneller als Licht. Doch dessen Tempolimit ist das einzige, was in Einsteins Relativität absolut eingehalten werden muß. Nicht weniger rätselhaft und bedeutsam für unsere Existenz sind die Tatsachen, daß im Quantenbereich nicht jeder Wirkung eine Ursache vorausgeht (Kausalitätsproblem) und daß der Beobachter nur sieht, was er sehen will (Realitätsproblem). Es ist vielleicht ungerecht, neben dem großartigen Weltraum-Panorama, daß Stephen Hawking in diesem Buch entfaltet, von ihm zu verlangen, sich gefälligst auch um den Dreck vor der Haustür zu kümmern. Wer aber die saubere Weltformel verspricht, müßte diese irdischen Störenfriede eigentlich mit links entsorgen. „Eine kurze Geschichte der Zeit“ ist ein überaus anregendes, lesenswertes Buch, sein Autor trotz mancher Eitelkeit mit genügend britischem Humor ausgestattet, um sich nicht immer ernst zu nehmen, und zudem ein guter Schreiber, der seinen hochabstrakten Stoff mühelos und anschaulich entfaltet. Eine Great Unified Theory jedoch ist nicht in Sicht - und so muß letztlich auch für Hawkins neue Weltformel das alte Verdikt gelten: GUT gemeint ist das Gegenteil von GUT.

Stephen Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit - Die Suche nach der Urkraft des Universums, Rowohlt 1988, 238 Seiten, 34 DM