Verstellter Blick

■ Politische Öffnung in Chile

Nun dürfen sie also alle zurück: der Kommunist Corvalan, der Sozialist Altamirano und sogar Hortensia Bussi, Witwe des 1973 ermordeten Präsidenten Salvador Allende. Seit wenigen Tagen ist der Ausnahmezustand aufgehoben, und der Diktator spricht bereits von der „neuen Demokratie“. Wäre das alles nicht just einen Monat vor dem Plebiszit geschehen, bei dem Pinochet eine Niederlage befürchten muß, könnte man tatsächlich verführt sein zu glauben, in Chile habe ein neues Zeitalter begonnen oder sei gar die Demokratie ausgebrochen.

Substantiell hat sich jetzt wenig verändert. Tausende von Chilenen, wenn auch darunter weniger Prominenz, durften in den letzten Jahren aus dem Exil zurückkehren, die Aufhebung des Ausnahmezustands garantiert kein Ende der Folter, und von Demokratie kann nicht die Rede sein, solange die Militärs bestimmen, wen das Volk zum Präsidenten wählen darf.

Veränderungen gab es allerdings vor Jahren: Die Diktatur von 1988 ist längst nicht mehr die von 1973. Die unvergeßlichen Bilder vom behelmten Präsidenten Allende in der bombardierten Moneda, vom Sänger Victor Jara mit seinen abgehackten Händen, vom Stadion, das zum Konzentrationslager geworden war, haben uns den Blick auf die Veränderungen verstellt. Längst hat in Chile die selektive Gewalt der Geheimdienste die dumpfe Gewalt der Militärstiefel abgelöst. In Santiagos Buchhandlungen liegen Allendes Werke heute neben den Büchern von Fidel Castro und Ernesto Cardenal. Keine Musikhandlung, die neben dem Kubaner Silvio Rodriguez nicht auch Victor Jara im Angebot hätte. Und die oppositionelle Presse – überall frei erhältlich – nennt die Diktatur längst schon Diktatur.

Chile ist für die Linke zum Symbol geworden, zum Symbol für Gewaltherrschaft schlechthin, und im Fall Chile hat sich geradezu beispielhaft erwiesen, daß Demokratie und Diktatur für Washington taktische Größen sind und daß deutsche Exportinteressen auf Menschenrechte pfeifen. Dieser Symbolcharakter hat es erschwert, vom liebgewordenen und allzu lang gehegten Bild von Pinochets Diktatur Abschied zu nehmen, von einem Bild, das sich zudem sehr gut in ein manichäisches Weltbild der Linken einfügte: hier Volk und Armut, dort Militär und Kapital.

Wir haben uns von den blanken Säbeln und Uniformen der Militärs blenden lassen: Es gibt in Chile kulturelle und politische Freiräume; es gibt Gerichte, die Todesurteile wieder aufheben, man kann aus dem Exil nach Santiago zurückkehren, ohne gleich einer Todesschwadron zum Opfer zu fallen. Wer das heute nicht wahrnehmen will, läuft Gefahr, sich morgen ein zweites Mal blenden zu lassen, vom Schein einer Demokratie, in der es weiterhin Folter und Todesschwadronen gibt, in der, unabhängig vom Ausgang des Plebiszits, die Macht letztlich bei den Militärs bleibt, die für tausendfachen Mord nie gebüßt haben.

Thomas Schmid