Wenn einer keine Reise tut...

...kann er sich das Märchen „Stumme Liebe“ zu Gemüte führen, ein Bremer Märchen wie das berühmte von den Stadtmusikanten, aber eben nicht so berühmt. Obwohl es auch gut ausgeht  ■  Von Bernhard Gleim

Wenn man an ein Märchen denkt, das mit der Stadt Bremen verbunden ist, dann fallen jedem natürlich zuerst die Bremer Stadtmusikanten ein, das berühmteste Bremer Märchen. Nun gibt es aber noch ein anderes Märchen, ein viel weniger berühmtes, in dem Bremen der Schauplatz ist; das mittelalterliche Bremen mit seinen reichen Kaufleuten und verwinkelten Gassen, und das davon erzählt, wie ein reicher Jüngling nach vielen Mühen am Ende ein armes, schönes Mäd

chen zur Frau gewinnt: Stumme Liebe - so ist der Titel, und geschrieben hat das Märchen der Weimaraner Dichter Musäus - lange bevor die Gebrüder Grimm ihr Märchen von den Stadtmusikanten erzählten.

Es war einmal ein reicher Kaufmann, Melchior von Bremen genannt, der sich immer hohnlächelnd den Bart strich, wenn vom reichen Mann im Evangelium gepredigt wurde, den er im Vergleich mit sich nur für einen kleinen Krämer schätzte.

In Bremen also lebt Melchior, der Kaufmann. Der hat einen

Sohn, Franz. Als der Vater stirbt, ist dieser Franz der begehrteste Junggeselle von Bremen. Franz ist nämlich nicht nur steinreich, sondern zu allem Überfluß auch smart und schön.

Sein Körper war regelmäßig gebauet, dabei fest und konsistent; seine Gemütsart heiter und jovialisch, als wenn geräuchert Ochsenfleisch auf seine Existenz Einfluß gehabt hätte. Kein Gastmahl am Hofe des Bischofs kam dem seinen gleich an Pracht und Überfluß, und solange die Stadt Bremen steht, wird solch ein Ochsenfest nicht wieder erlebt, als er jährlich zu begehen pflegte: An jeden Bürger spendete er einen Krüselbraten aus und ein Krüglein spanischen Weins.

Klar, daß man bei so viel guten Gaben darauf achtet, sie möglichst schnell zu verschleudern. Des Vaters Nachlaß war des Sohnes Verderben: Der reiche Franz ist bald bitterarm und muß aus seiner Luxusvilla in eine Dachstube in der hinteren Neustadt umziehen. Kaum aber hat er sein neues Quartier bezogen, fällt sein Blick auf die Dachstube gegenüber:

Da wohnte eine ehrbare Matrone, die auf Hoffnung besserer Zeiten sich kümmerlich vom langen Faden nährte, den sie nebst ei

ner wunderschönen Tochter durch die Spindel gewann, sie zogen denselben tagtäglich so lang aus, daß sie die ganze Stadt Bremen, mit Wall und Graben und allen Vorstädten leicht damit hätten umspannen können.

Natürlich ist Franz nicht so sehr am fleißigen Gewerbe, sondern mehr an der schönen Tochter interessiert. Liebe auf den ersten Blick!

Aber obwohl er sogar Musikunterricht nimmt, um die Angebetete mit der Laute zu beglücken, bleibt er erfolglos. Nicht bei der Tochter. Bei der Mutter. Die hat alles andere im Sinn, als ihre Tochter nun ausgerechnet einem abgehalfterten Playboy in die Ehe zu geben.

So sitzen sich denn die Vertreter fleißigen Aufstiegswillens und das traurige Exempel sozialen Abstiegs von Dachstub zu Dachstub gegenüber, und nichts bewegt sich. Franz will aber nicht im Angesicht der Angebeteten verschmachten - und deswegen macht er das einzig Richtige: Er verläßt Bremen zu einer langen Reise. Und eins schwört er sich: Irgendwann wird er zurückkommen, die Taschen voller Geld, und vor seinen Dukaten wird auch die engherzige Matrone von gegenüber alle Beden

ken fahren lassen.

Auf seiner langen Reise erlebt Franz die fürchterlichsten Abenteuer, denn damals, so schreibt Musäus, war eine Reise von Bremen nach Antwerpen so gefährlich wie heutigentags eine Reise von Bremen nach Kamschatka. Aber Franz nimmt alles auf sich, läßt sich sogar von einem grausigen Gespenst die Haare scheren, alles nur, um endlich wieder zu Geld und damit zurück zu seiner Angebeteten zu kommen.

Es dürfte keinen überraschen, daß Franz am Ende doch die schöne Spinnerin zum Traualtar führt. Schließlich ist dies ein Märchen, und im Märchen werden selbst aus bitterarmen Bremern stinkreiche Bürger. Immerhin ist interessant, was Musäus als Grund für Franzens Erfolg angibt: Es ist seine Offenheit, die ihn immer wieder Reisegefährten finden und Feinde zu Freunden werden läßt. Franz sage, so heißt es im Märchen, alles rund und deutsch heraus, was ihm zu Sinne steht, wie's der Bremer Art ist.

Daß Bremer Freimut auch bei anscheinden aussichtslosen Lieben hilft, ist also die Moral des Bremen-Märchens von Musäus, und für die Gültigkeit dieser Weisheit gibt es bis auf den heutigen Tag Beispiele genug.