„Furor Teutonicus“

■ Wolfgang Schivelbuschs Recherche einer Bücherverbrennung

Die Zerstörung einer Bibliothek - welche Tat dokumentierte augenscheinlicher die kulturelle Haltung dessen, der sie begeht, eine Haltung, die in den historischen Zeugnissen der betreffenden Epoche als eine „barbarische“ gebrandmarkt wird. Allerdings läßt sich im besonderen Fall ein Anteil an propagandistischer Intention nicht leugnen, etwa zur Zeit der Vernichtung der Bibliothek Alexandriens durch arabische Invasoren, beschönigen doch die abendländischen christlichen Chroniken die Jahrhunderte zuvor stattgefundene Zerstörung der Büchersammlung durch die Römer, auf Cäsars Geheiß, als unglücklichen Zufall, wohingegen der mohammedanische Kalif Omar als Bücherverbrenner in die Geschichte eingegangen ist. Wer Bücher verbrennt, tötet auch Menschen; am furchtbarsten haben die Nationalsozialisten dafür gesorgt, daß diese Kausalfeststellung für immer wahr bleibt. Jeder moderne Krieg nimmt sozusagen „billigend in Kauf“, daß sich im Verlauf seiner Kampfhandlungen Landschaften in Wüsten verwandeln und Städte in Schutt und Asche fallen; egal, ob es sich um das nichtswürdige Banale oder um die eine Zivilisation dokumentierenden Kultur„werte“ handelt - ein jedes Monument der Menschheitsgeschichte kann für immer vernichtet werden und unwiederbringlich verloren gehen, und das womöglich allein aus Gründen eines geringen Gewinns, eines erschreckend zeitgebundenen Vorteils der Gegenwart.

Wolfgang Schivelbusch, der als Kulturhistoriker und Autor von Werken über die Geschichte der Eisenbahnreise, übers künstliche Licht im 19.Jahrhundert und „Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“ bekannt geworden ist, hat in seinem neuesten Buch, „Die Bibliothek von Löwen“, eine Episode aus der Zeit der Weltkriege mit faszinierender Detailgenauigkeit recherchiert. Aus Quellensammlungen westeuropäischer und amerikanischer Archive setzt Schivelbusch die Geschichte der ältesten Bibliothek Belgiens, vor allem für die Zwischenkriegszeit, wie ein Mosaik zusammen, eine bisher ungeschriebene Geschichte, die bestimmt ist von der zweifachen Vernichtung der wissenschaftlichen Büchersammlung durch die Armee der deutschen Besatzer. Fast dreihunderttausend Bücher und Handschriften verbrannten im Augusst 1914 innerhalb weniger Tage als Folge einer mörderischen Strafaktion des deutschen Heeres an der Bevölkerung. Ein Großteil des spätmittelalterlichen Stadtkerns von Löwen wurde niedergebrannt. Ein Krieg der Geister begann, in dessen Verlauf deutsche Intellektuelle, unter ihnen Max Liebermann und Max Reinhardt, die Vernichtungstat als notwendiges Abschreckungsmanöver zu rechtfertigen suchten und dem deutschen Militarismus huldigten. „Ici finit la culture allemande“ - hier endet die deutsche Kultur - diese Zeile stand nach Ende des Krieges auf einem Transparent über den Ruinen des Bibliotheksgebäudes. Den Hauptteil von Schivelbuschs Arbeit bildet das durchaus internationale Bemühen des Wiederaufbaus, der Schwerpunkt liegt auf der Rekonstruktion der Löwen-Hilfe in der Zwischenkriegszeit: Nationale Hilfsorganisationen koordinierten umfangreiche Spendenaktionen, mitunter sehr minutiös zeichnet der Autor die Kooperation von belgischen Experten mit deutschen Bibliothekaren nach, er beschreibt die Reparationsfestsetzung, der eine Art Bücherbeschaffungsprogramm folgte, bis hin zum Neuaufbau des Löwener Hauses durch einen amerikanischen Fond, gespeist von einem Komitee, hinter dem - ählich wie in Frankreich, illustre Geschäftsleute mit kulturbeflissenen Politikern, wissenschaftliche Koryphäen mit Bibliothekaren und Kultusverwaltern eine publizitätsorientierte Allianz eingingen.

Das Buch erhellt vor allem die Verhandlungen, Kontakte und Anstrengungen, welche zum Wiederaufbau führten, bis die „Wiederholung“ der Zerstörungstat zu Beginn des Westfeldzuges im Zweiten Weltkrieg im Mai 1940 die gesamte Restauration zunichte machte. Eine Synopsis nachträglich vergeblicher Arbeit, einer Aufbauarbeit, die aus zahllosen individuellen Interessen und öffentlichkeitswirksamen Propagandastrategien zusammenwuchs, leistet die Geschichte der „Bibliothek von Löwen“. Sie zeigt, daß zahlreiche Bibliothekare und Handschriftenexperten durch die Wiedergutmachungskommission in Verbindung traten und mehr oder weniger kompromißbereit an den Lieferungen nach Löwen mitwirkten.

Eine Büchersammlung wird hier zum objektiven Sujet einer Studie, welche Zahlen und Namen von Buchausgaben im Prozeß der Rekonstruktion mit kurzen Charakteristiken jener Leute verbindet, die sich mit Bibliotheksorganisation und Archivierung befassen. Durch Zitate aus Nachrufen werden zwei für den Wiederaufbau der Handschriftensammlung verantwortliche Sachverständige folgendermaßen beschrieben: „Der Inhaber des Löwener Lehrstuhls für Romantik war ein Kenner der burgundischen und französichen Literatur des Spätmittelalters, ein Genießer üppiger Mahlzeiten, guter Weine und starker Zigarren und ein Mann großer Körperfülle. Alle diese Eigenschaften befanden sich miteinander im Einklang, denn Bayot verfügte, wie ein Kollege es ausdrückte, über eine Gelehrsamkeit, 'deren Robustheit in direkter Beziehung zu seinem massigen Körper uns seiner physischen Kraft zu stehen schien.‘ - (...) In seiner äußeren Erscheinung und seinem Auftreten war Leidinger das Gegenbild zu seinem belgischen Kollegen. Während Bayots Körpermasse Sensibilität ausstrahlte ..., ähnelte der kräftige, untersetzte, stets in straffer Haltung und mit energisch vorgestrecktem Kinn auftretende Leidinger mehr dem 'Leiter eines großen Geschäftsunternehmens ... als einem Gelehrten‘.“

Der sachliche Bericht erscheint durch Formen der Betonung von direkter zeitliche Aufeinanderfolge und Parallelität sein Material für den Leser in Bewegung zu versetzen, die Erzählweise dramatisiert mitunter den trockenen Stoff, indem manches Mal persönliche Episoden eingefügt sind anstelle von Statistiken und dem gewöhnlichen Verwaltungsdeutsch. Manchen Einzelheiten haftet Absurdes an: wenn etwa von dem deutschen Bibliothekar namens Oehler berichtet wird. In seiner Funktion als Sachverständiger in bezug auf Bergung von Kunstschätzen aus dem Kriegsgebiet untersuchte er in Löwen in den niedergebrannten Bibliotheksräumen wiederholt die Bücherasche und grub verkohlte Bände aus, 1917 wie 1940. Der Nietzsche-Verehrer und glühende Anhänger der Herrenmenschen -Idee beim Ausgraben, beim ohnmächtigen Registrieren der vollendeten Tatsachen - man meint den Klugeschen Typus des „Patrioten der Arbeit“ vor sich zu haben. Seine Bemühungen erweisen sich als ebenso absurd wie das ganze Unternehmen der Wiedererrichtung im nachhinein.

Schivelbusch bringt historische Zeugnisse der Vergeblichkeit zur Sprache und rettet das Andenken eines Werks zwischen seinen Zerstörungen, zwischen zwei Kriegen.

„Historische Ereignisse werden von ihren Zeitgenossen häufig in der Form eines einziges Bildes wahrgenommen“ - so schreibt der Autor an einer Stelle. „Es mag noch so viele Photographien einer Vertragsunterzeichnung, eines Attentats, einer Katastrophe geben, immer bleibt es einem vorbehalten, den Sinn zu stiften und Symbolbild zu werden.“

Ein Bild-Paar des „Vorher-Nachher„-Genres, der große Bilbiothekssaal in seiner Blüte und als Ruine, ausgebrannt, wurde zu diesem Symbolbild, das um die Welt ging. Ein Büchertempel, nicht mehr von dieser Welt, darunter sieht man die kahlen Seitenmauern, aus denen Eisenträger herausstaken, die weder Dach noch Boden mehr halten. Eine Bibliotheksruine, die einem gestrandeten Schiffswrack ähnelt.

Jörg Becker

Wolfgang Schivelbusch: Die Bibliothek von Löwen. Eine Episode aus der Zeit der Weltkriege; Carl Hanser-Verlag, München-Wien 1988, 243 Seiten, zahlreiche Abb., 38 DM