Wenn einer keiner Reise tut ...“

■ ...dann könnte er auf den Spuren des Dichters Rainer Maria Rilke nach Worpswede kommen und sich im Teufelsmoor in schöne schlanke Mädchen verlieben, und wenn er nicht aufpaßt, ist er verheiratet.

Im Jahre 1900 schreib der Dichter Rainer Maria Rilke, damals gerade auf einer Reise durch Rußland, einen Brief an seinen Freund, den Maler Heinrich Vogeler in Worpswede:

„Lieber Heinrich Vogeler! Ich denke an Sie. Ich werde mein Versprechen wahrmachen und bin im August bei Ihnen.“

Rilke kommt nach Worpswede, und das wird ein bedeutsamer Aufenthalt für ihn und

Worpswede: der Junggeselle Rilke verläßt Worpswede als verheirateter Mann, und Rilke zeichnet in seinen Schriften und Gedichten ein so nachhaltiges Bild des Dorfes im Teufelsmoor, daß die Fremdenverkehrswerbung bis heute davon zehren kann.

Als Rilke nach Worpswede kommt, ist er noch voll von seinem Rußlanderlebnis, er ist regelrecht russophil, hat sogar Gedichte in Russisch geschrieben,

deren Grammatik, wie Kenner versichern, zwar schrecklich falsch, deren Klang aber seltsam schön ist, wie so vieles, was Rilke dichtet. In Worpswede fällt der etwas sonderliche Fremde, der seinen Dichterberuf wie eine religiöse Berufung versteht, bald auf. Vogeler in seinen Memoiren:

„Meine Haushälterin hatte ein sonderbares Entsetzen vor dem eigentümlichen Gast, vor allem, wenn er in der umgürteten grünen Rubatschka, einem russischen Bauernkittel, mit den bunt applizierten roten Tartarenstiefeln an den Füßen durch den Garten ging. Dann wurde sie von großer Angst befallen, er könne vielleicht in diesem Aufzuge ins Dorf gehen.“

Vogeler nimmt den Freund mit zu langen Wanderungen in die Landschaft. Die findet Rilke zuerst zwar grau und öde, nach und nach aber erschließt sie sich ihm, und er wird zu einem Sänger der norddeutschen Tiefebene:

„Unter den großem Himmeln liegen flach die dunklen Felder, weite Hügelwellen voll bewegter Erika, daran grenzende Stoppelfelder und eben gemähter Buchweizen, der mit seinem Stengelrot

und dem Gelb der Blätter köstlichem Seidenstoff gleicht. Und wie das alles daliegt, nah und stark und so wirklich, daß man es nicht übersehen kann. Jeden Augenblick wird etwas in die tonige Luft gehalten, ein Baum, ein Haus, eine Mühle, die sich ganz langsam dreht, ein Mann mit schwarzen Schultern, eine große Kuh oder eine hartkantige Ziege, die in den Himmel geht. Da gibt es nur Gespräche, an denen die Landschaft teilnimmmt, von allen Seiten und mit hundert Stimmen.“

Der Einzelgänger Rilke findet schnell Zugang zu den Malern in der Künstlerkolonie. Da kommen häufig Freunde zusammen, auf dem Barkenhof wird jeden Sonntagabend bis in die frühen Morgenstunden musiziert, gesungen, getanzt und geredet, Einladungen, als deren Gastgeber sich der Gast Rilke bald selber fühlt:

„Am siebenten Tag empfange ich im weißen Saal bei zwölf Kerzen (...) sehr schöne schlanke Mädchen in Weiß, die, wenn ich sie bitte, Lieder spielen und singen.“

Besonders auf zwei dieser

schönen schlanken Mädchen hatte Rilke einen Blick geworfen, auf die Malerin Paula Becker und die Bildhauerin Clara Westhoff. Die Rilkologen streiten sich bis heute darüber, ob Rilke nicht eigentlich in Paula verliebt gewesen sei und Clara erst dann zu seiner Frau erwählt habe, als ihm Otto bei Paula zuvorgekommen sei. Wie auch immer - eines der bekanntesten Worpsweder Gedichte Rilkes ist zweifellos nicht seiner späteren Frau, sondern Paula Modersohn-Becker gewidmet:

„Die roten Rosen waren nie so rot

als an dem Abend der umregnet war.

Ich dachte lange an dein sanftes Haar.

Die roten Rosen waren nie so rot.

Wenn man sich heute von den ausgetretenen Spazierpfaden löst und ins Teufelsmoor hinauswandert, dann kann man hier und da noch einen so starken Eindruck von der Worpsweder Landschaft erfahren, so wie das bei Rilke vor 88 Jahren der Fall war.

Bernhard Gleim