Inzwischen lagern wir weiter zwischen

■ Die Karlsruher Verfassungsrichter retten den letzten Atom-Notanker mit formaler Begründung

Der Fall Hanau hat den Entsorgungsnotstand der Atomgemeinde unverhüllt in den Blickpunkt gerückt. Zentraler Punkt im nichtvorhandenen Entsorgungskonzept sind die Zwischenlager. Hier soll der Atommüll lagern, bis – irgendwann am jüngsten Tag – eine endgültige Lösung für die Aufbewahrung der über Jahrtausende strahlenden Abfälle gefunden ist. Rechtliche Grundlage: keine. Doch die Karlsruher Richter erklärten sich gestern für nicht zuständig, solange noch die Verwaltungsgerichte tagen.

Es war ein schwüler Julitag im Jahre 1980, als der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht, vor die Öffenlichkeit trat und erklärte, daß der Abfall aus den deutschen Atomkraftwerken „eine gewaltige nationale Energiereserve“ sei. Es wäre ein „grober Fehler“, diesen Abfall frühzeitig in Salzstöcken verschwinden zu lassen, dann komme man an die Reserven nämlich nicht mehr heran. Eine Zwischenlagerung biete hier entscheidende Vorteile. Ein solches Lager schaffe außerdem 50 bis 60 Arbeitsplätze und werde den Gemeinden jährlich rund eine Million Gewerbesteuer bringen.

Albrechts Märchenstunde hatte mit den Tatsachen nichts zu tun: Die Zwischenlagerung war nie etwas anderes als ein aus der Not geborenes Provisorium. Für die Not hatte dabei Albrecht selbst gesorgt: Am 16.Mai 1979 lehnte er in einer spektakulären Rede im Landtag das „Integrierte Entsorgungszentrum“ Gorleben als „politisch nicht durchsetzbar“ ab. „In meiner Politikergeneration“, tönte Albrecht, werde es kein Entsorgungszentrum und keine WAA geben, „jedenfalls nicht in Niedersachsen.“ Damit war die Entsorgungslücke geboren, mit Albrechts Blockade brach der sozialliberalen Regierung ihr Entsorgungskonzept unterm Arsch zusammen.

In akuter Not wurde eine Kommission eingesetzt, die ein „Zwischenlager“-Konzept ausarbeiten sollte. Nach langem Streit über Naß- oder Trockenlagerung, Abklingbecken und Sicherheitsrisiken fand man das Ei des Kolumbus. Die hochradioaktiven abgebrannten Brennstäbe sollten einfach in den Transportbehältern, in denen sie angeliefert werden, stehen bleiben. „Es ist etwa so“, sagt der Hamburger Anwalt Nikolaus Piontek, wie wenn ein Lastwagenfahrer „seinen LKW mitsamt dem Dreck einfach auf der Müllkippe stehen läßt.“

Die DWK nannte diesen Vorgang das „Konzept der Transportbehälter-Zwischenlagerung“ und verlangte lediglich den Bau eines „Wetterschutzes“, unter dem die sogenannten Castor-Behälter dann auf Betonplatten hingestellt werden und zehn, zwanzig oder auch vierzig Jahre lagern. Dieser „Wetterschutz“, eine riesige Zwischenlagerhalle, steht in Gorleben seit 1984 fix und fertig da, in Ahaus ist es ebenfalls fast vollständig fertiggebaut und auch in Wackersdorf wird es baugleich als Eingangslager für die WAA errichtet. Richtfest wurde schon gefeiert. Das bundesdeutsche Zwischenlager für hochradioaktiven Müll, das die DWK schlicht „Lagerhalle für Brennelement-Behälter“ nennt, kann 1.500 Tonnen an abgebranntem Kernbrennstoff aufnehmen, was dem radioaktiven Inventar von etwa 17 normalen AKWs entspricht. 420 Castor-Behälter mit in der Regel vier Brennelementen kann die 190 Meter lange und 40 Meter breite Halle aufnehmen. Jeder dieser Behälter enthält radioaktives Material von acht Hiroshima-Bomben.

Wer allerdings das bundesdeutsche Atomgesetz aufschlägt, sucht dort das Wort „Zwischenlager“ vergeblich. Die Zwischenlagerung taucht nicht auf, weil sie auch nicht vorgesehen war. Es gibt bis heute keine Genehmigungsvorschrift und kein Gesetz für diese Art von „Entsorgung“. Doch die DWK wußte sich zu helfen: Die Zwischenlager wurden einfach nach Baurecht fertiggestellt. Quasi als freiwillige Zugabe gab es eine rechtlich unverbindliche Bürgerbeteiligung. Die atomrechtliche Betriebsgenehmigung, die noch auf ihren Vollzug wartet, erteilte man schließlich nach Paragraph sechs des Atomgesetzes, der die Aufbewahrung von „frischen“ Kernbrennstoffen, nicht von Atommüll regelt.

In der Nähe eines unbestrahlten, offenlagernden Brennele mentes, so schreiben die Rechtsanwälte Reiner Geulen und Nikolaus Piontek in ihrer Verfassungsbeschwerde vom Dezember 1982, könne man sich einige Zeit aufhalten, ohne kurzfristig gesundheitlich Schaden zu nehmen. Wer aber an einem ungeschützt lagernden abgebrannten Brennelement in einiger Entfernung auch nur schnell mit dem Auto vorbeifahre, könne dies nicht überleben. Die Aktivität eines Brennelements steigt durch den Abbrand im AKW auf das Dreieinhalbmillionenfache. Bei der Beratung des Paragraphen sechs des Atomgesetezes war der Bundestag davon ausgegangen, daß die „Aufbewahrung von Kernbrennstoffen weder mit Immissionen noch mit der Aussendung von Strahlen auf andere Grundstücke verbunden“ ist. Natürlich waren damit unbestrahlte Kernbrennstoffe gemeint. Man könne deswegen ein Zwischenlager nicht wie eine Scheune nach Baurecht errichten und anschließend nach Paragraph Sechs atomrechtlich genehmigen, lautete deswegen ein wesentliches Argument der Verfassungsbeschwerde. Welche Gefahren von der Zwischenlagerung abgebrannter Brennelemente in Castorbehältern über Zeiträume von bis zu vierzig Jahren tatsächlich ausgehen, hat 1981 eine Gruppe von Wissenschaftlern der Uni Bremen untersucht.

In den Castor-Behältern herrscht durch die Nachzerfallswärme eine Temperatur von 400 bis 500 Grad, außen sind die Behälter immer noch 80 bis 90 Grad heiß und müssen entsprechend gekühlt werden. Im Zwischenlager soll dies durch ständigen Durchzug geschehen. Die Lager sind folglich als offene Hallen gebaut. Damit sind die Castor-Behälter selbst die einzige Barriere gegen den Austritt von Radioaktivität. Und diese Barriere kann nach Ansicht des Bremer Physikers Gerald Kirchner durchaus versagen.

Wegen der ungeheuren Strahlung der abgebrannten Brennelemente werden die Behälter in den AKWs unter Wasser beladen. Das Wasser soll zwar anschließend sorgfältig aus den Castors abgepumpt werden, doch nach Ansicht des Bremer Physikers bleiben dabei zumindest im Bereich der verwinkelten Deckelkonstruktion unvermeidlich Wasserreste zurück. Dort sind die Behälter ohnehin korrosionsanfällig, weil hier verschiedene Metallarten aneinanderstoßen. Eine Freisetzung von Radioaktivität durch „Deckelversagen“ sei nicht auszuschließen, urteilte auch das Verwaltungsgericht Lüneburg, als es im Jahre 1984 der Klage gegen die sofortige Einlagerung stattgab.

Ein Durchrosten der Behälter an den Deckeln hätte fatale Folgen. Während der jahrzehntelangen Lagerung werden die Hüllrohre der Brennelemente zerstört und ein Teil des radioaktiven Inhalts liegt offen in den Castor-Behältern verteilt. Wenn auch nur ein Prozent des in einem Castor enthaltenen radioaktiven Jod-129- Gases austreten würde, so haben die Bremer Wissenschaftler errechnet, könnten bereits in der Umgebung des Gorlebener Zwischenlagers die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung überschritten werden.

Auch sogenannte Kritikalitätsunfälle wollte die Gutachtergruppe nicht ausschließen. Es könne sich soviel Kernbrennstoff am Boden in den Behältern sammeln, daß es zu einer Kettenreaktion komme. Dies sei, so Gerald Kirchner, nicht mit einer Atombombenexplosion vergleichbar, da der hochradioaktive Müll sofort auseinanderfliege, aber der Deckel des Castorbehälters könne abgesprengt werden.

Vieleicht sind diese Risiken nur gering, doch die Zwischenlagerung ist in jedem Fall ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Niemand hat diese Form der Lagerung über die vorgesehenen langen Zeiträume erprobt, niemand kann kontrollieren, was in diesen Jahrzehnten tatsächlich in den Behältern vor sich geht.

Auch die offiziellen TÜV-Gutachter haben Lecks an den Behälter-Deckeln nicht ausgeschlossen. Eine Gefährdung der Bevölkerung halten sie allerdings für ausgeschlossen. Bei einer „Freisetzung von Aktivität müsse man ein „realistisches Verzehrverhalten“ der Bevölkerung annehmen, heißt es in dem TÜV-Gutachten. Wenn die Pflanzen in der Umgebung des Lagers radioaktiv verseucht seien, würde sie schließlich niemand mehr essen, und dadurch – simsalabim – würden die Grenzwerte eingehalten. Jürgen Voges/Manfred Kriener