„24 Stunden kein Mord in Medellin“

■ In Kolumbiens zweitgrößter Stadt wurden 1986 über 2.800 Menschen ermordet. In der Stadt der Orchideen und der Kokainmafia geht die Angst um. Die gestiegene Nachfrage nach Killern wird in einem Land, in dem Mord eine soziale Verkehrsform scheint, schnell befriedigt.

Aus Medellin Thomas Pampuch

Schönheitskonkurrenzen gibt es in Kolumbien alle naslang. „Senorita del Valle“, „Senorita de Colombia“, Senorita bolivariana“, „Senorita de America“... Kaum eine Woche vergeht, ohne daß nicht auf den Titelseiten irgendwelche leichtbekleideten Kandidatinnen der gehobenen oder aufsteigenden Schichten in Reih und Glied posieren. Daß bei diesen Miß–Wahlen geschoben wird und man als Juror solcher Konkurrenzen ansehnliche Bestechungssümmchen verdienen kann, pfeifen die Papageien von den Dächern. Daran hat man sich gewöhnt. So hat auch die Wahl der letzten „Senorita von Antioquia“ nur geringes Erstaunen ausgelöst. Die lokalen Zeitungen sprachen von einer „etwas überraschenden aber akzeptablen Entscheidung“. In Medellin, der zwei Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt des Departements Antioquia, hat man derzeit wie überall in Kolumbien, weiß Gott größere Sorgen. Doch was wenige Tage nach der Wahl hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde und worüber sich keine Zeitung zu berichten traute, zeigt, daß die kleine Sorge, ob nun auch wirklich die schönste „Paisa“ (so werden die Antioquenas genannt) die Krone gekriegt hat, durchaus etwas mit den großen Problemen des Landes zu tun hat. Nicht Schönheit und Grazie, aber auch nicht Geld oder Smaragde, so war zu hören, hätten die Wahl bestimmt, sondern ein Telefonanruf. Darin habe ein Unbekannter - oder war es ein Bekannter? - angedroht, er würde für ein Massaker im Saale sorgen, wenn nicht eine bestimmte Dame zur Miss Antioquia gewählt würde. Eine Stadt in Angst Was ist los in Medellin? Eine Stadt zum Verlieben. In einem wunderschönen Hochtal der zentralen Kordilleren gelegen, mit „ewigem Frühling“ gesegnet. Ein Zentrum der Textilindustrie, eine Stadt des Kaffees, der Orchideen und der exotischen Früchte. Eine fleißige und freundliche Stadt mit regem kulturellen Leben, schönen Plätzen, feinen Shoppingcenters und viel anheimelnder Backsteinarchitektur. Eine moderne, selbstbewußte Metropole mit Wolkenkratzern und Flohmärkten, mit Universitäten, Museen und - demnächst - dem besten Nahverkehrssystem Südamerikas - gebaut von Siemens. Doch das so fröhliche, dynamische Bild täuscht. Seit einiger Zeit geht in der zweitgrößten Stadt Kolumbiens die Angst um. 1986 gab es in Medellin über 2.800 Morde. Das sind fast acht Morde pro Tag - mehr als in Beirut. Und nahezu keiner davon ist aufgeklärt, geschweige denn bestraft worden. „24 Stunden kein Mord in Medellin“ war eine der überraschendsten Schlagzeilen des letzten Jahres. Auf eine Wiederholung dieser Meldung wird man warten müssen. Ein Absinken der Mordrate ist nicht abzusehen. Im Gegenteil. Niemand ist mehr sicher. Zu den „alltäglichen Morden“ kommen zunehmend auch politische. Ende August wurden innerhalb weniger Tage mehrere bekannte Vertreter der liberalen und kritischen Öffentlichkeit auf offener Straße erschossen: Der Präsident der Lehrervereinigung von Antioquia, Luis Velez, und zwei Tage später (auf dem Leichenzug für Velez) zwei führende Mitglieder des Komitees für Menschenrechte in Antioquia, Leonardo Betancur und Hector Abad Gomez, der auch Kandidat der Liberalen Partei für die im März anstehenden Bürgermeisterwahlen war. Die Serie setzte sich im September fort. Die Universitäten Medellins wurden geschlossen, Protestmärsche gegen die Gewalt veranstaltet, im ganzen Lande kondolierte man den Antioquenos zu der besonders schlimmen Welle einer „violencia“, einer „Gewalt“, die nun offensichtlich auch die kritische Führungsschicht des Departements erfaßt. Es ist kein Geheimnis, daß „Todeslisten“ zirkulieren, auf denen sich viele bekannte Wissenschaftler, Professoren, Richter, Journalisten, Politiker und Künstler befinden. Einige erhielten per Post ihre eigenen Todesanzeigen zugeschickt. Manche der Bedrohten verlassen bereits das Land. „Der letzte soll das Licht ausmachen.“ Der bittere Ausspruch Eduardo Galeanos auf dem Flughafen von Montevideo, als er 1975 Uruguay verließ, macht jetzt in Medellin die Runde. Was steckt hinter der Welle von Gewalt, die Medellin derzeit heimsucht? Weshalb ist in Kolumbien unter den Männern zwischen 15 und 45 Jahren Mord inzwischen die häufigste Todesursache, wie die amerikanische Menschenrechtsorganisation „Americas Watch“ festgestellt hat? „Dies ist ein sehr merkwürdiges Land“, ist die einzige Antwort, die ein junger Literaturprofessor der Uni von Antioquia darauf weiß, und man merkt ihm an, daß ihn die Ereignisse der letzten Wochen so betroffen haben, daß er ratlos, ja zynisch geworden ist. Alle Analysen und Erklärungsversuche - eine Hauptbeschäftigung der kolumbianischen Soziologie ist inzwischen die „violentologia“ geworden - können nicht darüber hinwegtäuschen, daß niemand weiß, wie dem zunehmenden Chaos, der ständig steigenden Gesetzlosigkeit zu begegnen ist. Angst haben in Medellin heute alle. Vernichtungsfeldzug Am vertrautesten ist diese Angst wohl den Vertretern der „Union Patriotica“ (UP). Diese wurde vor zwei Jahren als Ergebnis des Waff einer. „Es ist sicher, daß es eine Politik der Ausrottung gegen uns gibt“, sagt uns Carlos Gonima Lopez, der seit knapp einem Jahr als stellvertretender „personero“ (eine Art Revisor der Stadtverwaltung) einen nicht unwichtigen Posten im Rathaus von Medellin bekleidet. „Dieser Vernichtungsfeldzug wird von Sektoren des Militärs und der Polizei mit Unter stützung der Großgrundbesitzer und der reaktionärsten Sektoren der Liberalen und der Konservativen Partei geführt. „violentologia“ Doch trotz der Morde und trotz der Einschüchterungsversuche sind wir entschlossen, weiter auf dem Weg der politischen Legalität zu gehen. Wir lassen uns nicht provozieren.“ Auch bei 500 Toten nicht? „Das nationale politische Leben und die Geschichte Kolumbiens sind sehr gewalttätig. Wir haben eine Führungsklasse, die gezeigt hat, daß sie keines ihrer Privilegien abgeben will und die auch gegen die geringsten Reformen ist. So schmerzhaft und beängstigend das mit den Toten ist, sie sind ein Teil des politischen Lebens und des revolutionären Kampfes in diesem Land.“ Die UP kennt viele Namen von Militärs und Paramilitärs, die an dem „schmutzigen Krieg“ gegen die Partei beteiligt sind. Sie hat die Namen auch veröffentlicht. Doch Anzeigen und Strafverfolgung der Mörder haben bisher keine einzige Verurteilung gebracht. Unter den gegenwärtigen Bedingungen rechnet auch niemand damit. Ob die UP bei den Bürgermeisterwahlen im März (den ersten Kommunalwahlen in Kolumbien überhaupt) eine Rolle spielen wird, ist eine Frage des physischen Überlebens ihrer Kandidaten geworden. So heroisch, ja märtyrerhaft der Kampf der UP für eine legale politische Alternative erscheint, und so sehr man ihr Erfolg auf diesem Weg wünschen möchte, so zweifelhaft scheint dieser Erfolg im Moment. Viele UP–Leute gestehen im persönlichen Gespräch diese Zweifel auch ein und schließen einen revolutionären bewaffneten Kampf nicht aus - auch dafür sind allerdings die Perspektiven in der gegenwärtigen Situation ziemlich düster. Es könnte zu einem Blutbad kommen, nicht zuletzt aufgrund der „violencia“, bei der inzwischen jeder gegen jeden zu kämpfen scheint. Mit Begriffen und Fronten wie „reaktionäre Sektoren“, „hohe Militärs“ und „Volksmacht“ allein ist dieser violencia nicht beizukommen. Das Phänomen ist allgemeiner und komplizierter geworden. „Was wir in der letzten Zeit erlebt haben, ist eine neue Etappe, eine Serie von ganz besonderen Transformationen der Strukturen in unserem Land.“ So beschreibt der Historiker und Vizerektor der Universität von Antioquia, William Restrepo, die Lage. Die politische Krise von heute kann z.B. nicht mehr allein mit dem Modell des Klassenkampfes erklärt werden. In Kolumbien existiert nicht nur ein Typ von Gewalt. Es gibt verschiedene Typen. Es gibt die klassische politische Gewalt, die unser Land seit dem Bürgerkrieg in den fünfziger Jahren traumatisiert hat. Es gibt die allgemeine Kriminalität auf dem Land und in der Stadt, die ein Ausdruck der sozialen Auflösung ist, der Entwertung des Lebens. Es gibt jenen Typ der Ge walt, den einige bereits als faschistisch bezeichnen, was ich allerdings als verfehlt betrachte. Sicher gibt es faschistische Züge, es gibt Interventionen des Staates, aber es ist nicht der Staat, der die Gewalt direkt ausübt oder begünstigt. Es ist eine Mitbeteiligung über verschiedene gesellschaftliche Sektoren, sagen wir halbstaatliche, aber auch kleinbürgerliche oder konservative Klassenorganisationen teilweise faschistischen Zuschnitts, Amor por Medellin z.B. (eine Bürgerwehr, die sich darauf spezialisiert hat, Prostituierte, Homosexuelle und kleine Diebe zu ermorden und damit Medellin zu säubern.). Es gibt einen Apparat, der parallel zur militärischen Institution existiert, dessen Personal zwar mindestens zum Teil aus Militärs besteht, doch auf eigene Faust handelt. Und schließlich gibt es die autodefensa, die Selbstver teidigung, z.B. von Campesinos, die sich vom Staat nicht mehr geschützt fühlen. Diese autodefensa wird aber heute oft von den Großgrundbesitzern organisiert und von den Militärs unterstützt und gefördert.“ So alarmierend die politisch motivierte Gewalt ist, im Gesamtkontext der Violencia macht sie nicht mehr als zehn Prozent aus, wie eine neue Studie über „Gewalt und Demokratie“ in Kolumbien belegt. Fast noch beängstigender ist die Zunahme der Gewalt, die nicht die Beziehungen der Bürger zum Staat, sondern die Beziehungen zwischen den Bürgern betrifft, einer Gewalt, die von den Violentologen mit Begriffen wie „soziale“, „sozio–ökonomische“, „urbane“ Gewalt und „organisiertes Verbrechen“ näher umschrieben wird. Natürlich hängen alle diese Formen der Gewalt miteinander zusammen und natürlich haben sie allesamt etwas mit den sozialen Widersprüchen und Ungleichheiten, dem Elend und der Hoffnungslosigkeit in weiten Teilen der kolumbianischen Gesellschaft zu tun. Das Land hat eine „Kultur der Gewalt“ entwickelt. Mafia und „sicarios“ Zwei Phänomene, die gerade in Medellin zu traurigem Ruhm gekommen sind, illustrieren das: Die Drogenmafia und die Existenz von „sicarios“, professionellen Killern. Die „Medellin Connection“ gilt als die Drehscheibe im südamerikanischen Kokaingeschäft. Es ist kein Geheimnis, daß einige Stadtteile Medellins ihre „100 eine kürzlich angefertigte Erhebung meldete) den Drogenbossen verdanken, die dort als geachtete Mitglieder der Gesellschaft und als kommunale Wohltäter sitzen. Die gesellschaftliche Bedeutung des Drogenbusiness geht freilich weit über solche Idylle hinaus. Als wichtigster Faktor des organisierten Verbrechens und der bis in die höchsten Stellen reichenden Korruption spielt das Kokaingeschäft eine zentrale Rolle im Prozeß der Verbreitung von Gewalt als sozialer Verkehrsform. Bestechung, Todesdrohungen und Mord, wie sie als Teil der Geschäftspolitik des Drogenbusiness üblich sind, machen Schule. Und gerade bei den Armen ist der Einstieg in den Kokainhandel oft die einzige realistische Perspektive, schnell oder überhaupt zu Geld zu kommen. Der Schritt zum Eintritt in den Berufsstand des bezahlten Mörders ist dann nicht mehr groß. Jenseits der schönen Fassaden von „downtown“ und von Luxusvillen in den Vororten gibt es in Medellin große Elendsviertel. Die Stadt ist allein in den letzten sechs Jahren um 30 Prozent gewachsen, durch Zuzug vom Land. Arbeitsplätze sind mehr als rar. Die „sicarios“, die man heute in Medellin (für welche „Abrechnung“ auch immer) für wenig Geld anheuern kann, haben keine politischen Loyalitäten, morden nicht aus Überzeugung und wissen in den seltensten Fällen, wer ihre Opfer sind - und warum sie es sind. Es sind junge Burschen aus den Slums, die nie etwas anderes als Gewalt und Elend kennengelernt haben und für die der Weg aus dem Elend deshalb nur über Gewalt - Gewalt als Geschäft wohlgemerkt - möglich erscheint. Sie sind nicht die Schuldigen, auch wenn die meisten Morde heute auf ihr Konto gehen. Sie befriedigen nur eine Nachfrage. Und sei es der Wunsch nach einer bestimmten „Senorita von Antioquia“. „Wenn der Staat nicht mehr in der Lage ist, das Leben der Menschen zu verteidigen, wenn die Individuen sich von ihm weder geschützt noch unterstützt fühlen, besteht die Gefahr der sozialen und politischen Auflösung, die Gefahr eines Chaos, in dem jeder sein eigenes Recht schafft“, sagt William Restrepo. „Wir Kolumbianer nehmen uns die Freiheit Stück für Stück selber weg.“ Ein Kolumbianer ist es auch, der mir den Witz erzählt, den man in diesen Tagen in Medellin oft hört: Als Gott Kolumbien erschaffen hat, protestiert Jesus. Das Land sei einfach zu verschwenderisch ausgestattet: Zwei Ozeane, drei Andenketten, herrliche Täler, wunderbare Städte, fruchtbarstes Land, Gold, Smaragde, Ölquellen zuhauf. Das sei doch ungerecht. „Schon“, meint Gott, „aber warte nur, was ich da alles für Hurensöhne reinsetzen werde.“