Wallfahrt an den Ort des Schreckens

■ Mehr als eine Woche nach dem Herborner Tanklast–Unglück strömen immer noch Schaulustige in die hessische Kleinstadt / Auffallend viele Zeugen Jehovas / Die Sommerfeste fallen aus / Noch stehen die Ruinen

Aus Herborn Reinhard Mohr

Eine Woche nach der Katastrophe, die die hessische Kleinstadt weltweit in die Schlagzeilen brachte: Kurz hinter der Autobahnabfahrt Herborn–West steht ein neues Verbotsschild - Durchfahrt für LKW mit mehr als 7,5 Tonnen untersagt. Kurz dahinter eine große Warntafel, an der der Unglücksfahrer vorbeigerast war: „Achtung! Zurückschalten!“ Das zerstörte Areal in der Stadtmitte ist für einige Tage mit einem Bauzaun umgeben worden, bevor am Montag die Abrißarbeiten beginnen. Immer noch und immer wieder defilieren die Menschen am Ort des Schreckens vorbei. Neun Häuser explodierten hier oder brannten aus. Sechs Menschen starben, viele wurden verletzt, verloren ihr Obdach. Mit Videokamera und Fotoapparat halten die Betrachter fest, was sie nicht begreifen können: wie ein Mann am Steuer innerhalb weniger Minuten einen ganzen Straßenzug in Schutt und Asche legen, aus adretten Fachwerkhäusern schwarze Skelette machen kann. Auch holländische Urlauber wollen das einmal gesehen haben und unternehmen auf der Heimfahrt nach Utrecht und Amsterdam einen kleinen Abstecher. Gleichwohl hat das „normale Leben“ wieder Einzug gehalten in Herborn. Unter der hochsommerlichen Sonne schlendert man durch die geschäftige Fußgängerzone in der Altstadt, speist auf dem Rathausplatz an kleinen runden Tischen. Am Brunnen spielen Kinder. Eine fast mediterrane Atmosphäre, die selbst durch das hessische Idiom kaum zu trüben ist. Auch nicht durch die auffallend große Zahl der „Zeugen Jehovas“, die vor Boutiquen und Cafes stehen und ihre Broschüren feilbieten: „Erwachet - Hörst du auf die Warnungen?“ Es ist die schale Ironie der Wirklichkeit, daß im Laufe dieses schönen Vormittags mehrmals tieffliegende Kampfflugzeuge der NATO mit ohrenbetäubendem Lärm über Herborn hinwegdonnern, als wollten sie an noch nicht ausgeschöpfte Katastrophenmöglichkeiten erinnern. Doch das scheint niemanden sonderlich aufzuregen. Man ist daran gewöhnt und widmet sich beim Cappuccino der Illustrierten–Lektüre mit bunten Bildern: „Herborn - der alltägliche Wahnsinn.“ Doch der Alltag in Herborn zeigt überall noch die Spuren seiner katastrophalen Unterbrechung. Die große „Bärenkirmes“ Ende August wurde abgesagt. „Leid und Lustbarkeit dürfen nicht so kurz hintereinander liegen“, so formulierte es der Verkehrsverein. Auch das für den 25. Juli geplante Sommerfest fällt aus. Unterdessen läuft die Aufklärung des Unglücks auf Hochtouren. Eine Sonderkommission der Polizei hat fast hundert Augenzeugen vernommen. Ein technisches Gutachten über den Tanklastzug wird erst in einigen Wochen vorliegen, während der Streit um neue und alte Bremssysteme und Sicherheitsinnovationen längst ausgebrochen ist. Daß Spitzentechnologie den Katastrophenteufel austreiben könnte, ist ein Aberglaube, der schon auf der Autobahnfahrt von Frankfurt nach Herborn verdampft: Da rasen die Tanklaster mit weit über 100 Sachen über die Piste und verlassen sich auf ihre High Tech. Der schwerverletzte Fahrer des Unglücksfahrzeugs liegt noch immer im Krankenhaus und muß sich nun auf seinen Anwalt verlassen. Als Beschuldigter verweigert er jede weitere Aussage. „Wir müssen jetzt Druck auf die Oberen machen, das Eisen schmieden, solange es heiß ist“, sagt mir Bürgermeister Bernd Sonnhoff im Amtszimmer des Rathauses. Das Herborner Unglück vor Augen, müßten nun Tank– und Chemietransporte „aus Ortsdurchfahrten weitgehend verbannt“ werden. Er sei „zufrieden“ über die von Bundesverkehrsminister Warnke angekündigten Maßnahmen, die nun „aber auch in Angriff genommen“ werden müßten. Er selbst habe in Zusammenarbeit mit dem Landkreis vor, als Sofortmaßnahme „zwei Auslaufstellen“ an der Bundesstraße oberhalb Herborns anlegen zu lassen, in die Fahrzeuge mit Bremsschwierigkeiten sich „retten“ könnten. Zwei Wochen werden die Abbrucharbeiten dauern, schätzt der Bürgermeister. Schon sind Architekten dabei, die neuen Häuser zu planen. Auf der Rückfahrt melden die Nachrichten, daß ein Tanklaster im saarländischen Sankt Nikolaus in einer Rechtskurve umgekippt und ausgelaufen ist.