Berlin–Kreuzberg: Die Jagd geht weiter

■ Empörung über die Teilblockade des Berliner Stadtteils während des Reagan–Besuchs / Bis Sonntag hielt nachts der Ausnahmezustand an / Über 300 Festnahmen seit Freitag / Massive Polizeipräsenz und uniformierte Greiftrupps / Einkesselung von Demonstranten

Von Kuno Kruse

Berlin (taz) - Der Berliner Innensenator dankte am Wochenende nicht ab. Wilhelm Kewenig (CDU) dankte der Polizei. Nach der Totalabsperrung des 160.000 Einwohner starken Stadtteils Kreuzberg, der Sperrung der meistbenutzten U–Bahnlinie der Stadt und wahllosen Festnahmen war der Besuch des US–Präsidenten für den Ordnungspolitiker „ohne allzugroße Störungen“ verlaufen. 10.000 Beamte, darunter 1.000 Leihpolizisten aus Westdeutschland, hatten anläßlich der vierstündigen Stippvisite Ronald Reagans den Ausnahmezustand zu Land, zu Wasser und in der Luft gesichert. Ausweichbusse blieben in Autokolonnen stecken. Kinder kamen nicht mehr von der Schule nach Hause. Journalisten nutzten ihren Presseausweis, um Rentnerinnen durch die Kontrollstellen zum Arzt zu fahren. Der Wasserschutz brachte auf den Kanälen Ruderboote auf. Durch dichte Polizeiketten an jeder Kudamm–Kreuzung wurde die Bewegungsfreiheit im Jubiläumsjahr scheibchenweise aufgehoben. Viele Berliner standen überrascht von den Straßensperren, wie eine ältere Dame, die auf die Erklärung eines Beamten „wegen Reagan“ verständnislos den Kopf schüttelte: „Aber Regen haben sie doch erst für heute abend angesagt.“ Im strömenden Regen standen dann, noch Stunden, nachdem der Präsident die Stadt verlassen hatte, rund 300 Menschen, die spontan über Berlins prominente Einkaufspromenade „Tauentzien“ gezogen waren, in einem Polizeikessel. Bis zum Wochenende wurden 366 Menschen in Berlin festgenommen: nach der friedlichen Demonstration am Freitag oder in den Nächten im von den Legionen des Senators belagerten Kreuzberger „Kiez“ um die Oranienstraße. Fortsetzung auf Seite 2 Reportage, Interview, Kommentare auf den Seiten 4 und 5 B A R O E T E R 13.6.1987 670.000 Ob beim Verlassen eine Lokales oder beim Absitzen vom Motorrad, viele wurden seit dem Vorabend des Staatsbesuchs ohne ersichtlichen Anlaß, weit ab von jeder Barrikade, „nach Augenschein“ im Polizeigriff gepackt und „zur Gefahrenabwehr“ abgeführt. Greiftrupps jagten „Verdächtige“ bis in die entlegensten Straßen und Hinterhöfe. Wohnungen wurden gestürmt. Festgenommenen blieb noch nach Stunden in den Polizeigefängnissen untersagt, Kontakt mit ihren Rechtsanwälten aufzunehmen. Von Angehörigen der Festgenommenen beauftragte Strafverteidiger wurden nicht einmal zu einem sogenannten Anbahnungsgespräch für eine Mandatsübernahme in die Polizeizellen gelassen. Von 366 Festgenommenen stand am Sonntagmorgen nur noch ein geringer Teil unter dem Verdacht, überhaupt eine Straftat begangen zu haben. Gegen neun Personen wurde ein Haftbefehl erlassen. In einem Fall wegen versuchten Totschlags an einem Polizisten. Nachdem bereits am Vorabend des Präsidentenbesuchs Bauwagen umgekippt und Barrikaden aufgebaut worden waren, zogen sich kleinere Scharmützel auch durch die folgenden Nächte. Neutrale Beobachter waren nicht mehr in der Lage zu überschauen, ob Polizeieinsätze Reaktionen auf Bambule waren oder umgekehrt. Reportern vor Ort nützte nachts der Ruf „Presse“ nichts mehr. Auch die Chronisten der „Gewaltnächte“ wurden, wie alle, die es in diesem Stadtteil jetzt noch riskierten, zu zweit oder zu dritt zusammenzustehen, von unvermittelt heranstürmenden Ordnungskräften zusammengeschlagen. Die „KSZE“–Schlußakte von Helsinki über die Pressearbeit, beklagte der Berliner Rechtsanwalt und ehemalige AL–Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele in Anspielung auf die Pfingstereignisse an der Mauer in Ostberlin, wird auch im Westteil der Stadt nach Belieben außer Kraft gesetzt. Bereits am Vormittag des Besuchstages griffen Beamte in Schimanskizivil oder Streetfighterdress im Stadtzentrum alle ab, deren Outfit vermuten ließ, daß sie nicht regelmäßig in den Ku– Damm–Boutiquen einkaufen, und durchsuchten sie. Vergeblich riefen die im Polizeikessel Eingeschlossenen, in engen Reihen untergehakt, gegen den Polizeiwall an: „Die Mauer muß weg!“ Sie blieb für Stunden geschlossen. Teilweise nur in Hemd oder Sommerkleid standen die Festgenommenen im strömenden Regen und wurden einzeln z.T. von einschlägig erfahrenen Beamten aus dem Bundesgebiet mit Hamburger Akzent zur Personalienaufnahme oder erkennungsdienstlichen Behandlung abgeführt. Alle Bitten, geschlossen wenigstens bis zur nächsten U–Bahnhaltestelle abziehen zu können, wurden abwegig beschieden. Als unter Schlagstockeinsatz eine Bresche für ein Polizeifahrzeug durch die Eingeschlossenen geschlagen wurde, wurden zwei junge Männer verletzt. Einziger Lichtblick für die Gefangenen auf der Straße: Ein Mitglied des Berliner Kneipenkollektivs „Zille“ durfte getarnt als „Mann von der Stadtküche“ die Polizeikette passieren und übernahm die ambulante Versorgung mit „Hönkel–Futter“ aus der Gulschkanone. Eine weniger positive Bilanz als der Innensenator zogen auch die konservative „Gewerkschaft der Polizei im Beamtenbund“. Die Einstellung von U–Bahnlinien und die Schließung von Einkaufszentren sowie die stundenlange Verkehrsblockade seien, so Polizeigewerkschaftsvorsitzender Gregg, sei „eine Bankrotterklärung für den verantwortlichen Innensenator“. Während die SPD– Opposition noch am Sonntag von der Stillegung Berlins völlig paralysiert schien, verurteilte die Berliner Alternative Liste „Menschenjagd und Internierungen“ und überließen es dem Bundesverband der Grünen, den Rücktritt des Senators zu fordern. Daß auch in Zukunft in Berlin nichts mehr ohne die Polizei gehen soll, scheint selbst die Eröffnung der szenischen Ausstellung „Mythos Berlin“. Polizeiketten schirmten auch den 6–Millionen– Abenteuerspielplatz internationaler Künstler ab, bis nach der Eröffnungsrede des Kultursenators Hassemer der Projektleiter Knödler–Bunte Ausstellung und Buffet auch für drängelde Kreuzberger öffen ließ.