Lieber tot als indiskret

Die USA sind ein gesundheitsbewußtes Land. Fast jeder benutzt cholesterinfreies Streichfett, Salz ist verpönt, und vor fast jeder Kneipe weist ein Schild darauf hin, daß Alkoholgenuß während der Schwangerschaft zu Frühge Beste Voraussetzungen also, um sich der Herausforderung des AIDS–Virus zu stellen, durch Aufklärungskampagnen und Fernsehspots die Nation vor den Gefahren der Seuche zu wappnen. „Walking“ für die AIDS–Hilfe An einem berauschenden Frühlingstag in New York sieht es auch so aus. Zehntausende von hübschen und gepflegten Menschen mit perfekt modellierten Gesundheitsclub–Körpern treffen sich am Lincoln–Center, um Geld für die AIDS–Hilfe aufzutreiben. Der Bürgermeister Ed Koch verspricht, solange er in dieser Stadt die Verantwortung trage, werde es keine diskriminierenden Gesetze und Zwangs–AIDS–Tests geben (Ein soeben eingebrachtes, übergeordnetes Bundesgesetz schlägt Zwangstests für Neueinwanderer vor). Zehntausende Frühlingsnachmittagsheilige setzen ihre Turnschuhe in Bewegung und spazieren für AIDS. Vorher haben sie ihren Freunden gesagt, daß sie zehn Kilometer gehen würden, um Geld für Forschung und Patientenbetreuung aufzubringen und gefragt: Was zahlst du mir für einen Kilometer? Dann haben sie die Opfergabe ihrer faulen oder fußlahmen Freunde in Listen eingetragen und die Cash bei den Organisatoren abgegeben. Wer mehr als hundert Dollar Marschgeld aufgetrieben hat, wird nachher zu einer Champagnerparty eingeladen. Am Straßenrand stehen freundliche Menschen mit gelben T–Shirts und rufen uns zu: „Guten Morgen, nett, daß du gekommen bist!“ Eine Million Dollar erhofft man sich durch den Marsch für das Gay–Men–Health– Crisis–Center, die größte AIDS– Selbsthilfeorganisation der Welt. Mit 1.680 Freiwilligen und 70 Festangestellten hat diese Organi sation bislang 4.300 AIDS–Kranken geholfen. Ihr ehemaliger Präsident Paul Popham, ein Wallstreetbanker und hochdekorierter Vietnamkriegsheld, starb am 7. Mai an dem Leiden, das er die letzten Jahre bekämpft hat. Er ist einer der inzwischen 6.000 AIDS–Toten der Stadt seit 1979, ca. 20.000 sind erkrankt. In New York City ist AIDS die Haupttodesursache für Frauen zwischen 25 und 29 und Männer zwischen 30 und 39. Niemand der Zuschauer am Straßenrand beschimpft die schwulen Liebespaare, alle benutzen in langen Schlangen dieselben transportablen Toiletten. Eine Universität, ein großer Unterhaltungselektronikhändler und eine Bank zählen sich stolz zu den Sponsoren. Eine offene Gesellschaft stellt sich ihrer Seuche? Puritanismus gegen Aufklärung Leider ist das genaue Gegenteil richtig. Die Reagan–Administration und mit ihr die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung denkt gar nicht daran, sich finanziell und ideologisch der Herausforderung von AIDS zu stellen, die der Prognose nach im Jahre 1991 jährlich genausoviel Menschenopfer fordern wird wie der gesamte Vietnamkrieg. Ein mächtiger Puritanismus, der gerade unlängst einen Präsidentschaftskandidaten und einen Fernseh–Evangelisten verschlungen hat, verhindert jede wirkungsvolle Aufklärung. Obwohl 54 und daher populäre, eingängige Plakate und Fernsehkampagnen nötig wären, um diese Bevölkerungsgruppe überhaupt mit relevanten Informationen zu erreichen, findet diese, obwohl vollständig konzipiert und kostenlos zur Verfügung gestellt, nicht statt. Die öffentlichen Fernsehstationen verdammen Kondomreklame als „indezent“. Die Firma Saatchi und Saatchi hat eine Kampagne entwickelt, die vornehmlich auf Frauen zielt und so harmlose Aussagen enthält wie: „Ich gehe nur mit Präservativen aus dem Haus.“ Obwohl Sponsoren die Werbezeit im Fernsehen bezahlen würden, werden die Spots nicht gesendet, um die sittlichen Gefühle der Bevölkerung nicht zu verletzen. Selbst die Sex– und Crime–Spezialisten der Boulevardpresse sind zu moralisch, um Slogans wie „Lieber vorsichtig als tot“ zu verbreiten. Die einzig sichtbare AIDS– Erziehung hängt in den U–Bahnen aus. Darin wird in Englisch vor dem Austausch von Spritzen und „körperlichen Flüssigkeiten“ gewarnt, und auf eine Telefonnummer hingewiesen. Die paar Millionen ausschließlich Spanisch sprechenden New– Yorker werden zwar in ihrer Muttersprache auf die Kalorien–Vorzüge von Diätcola hingewiesen und auf die Geschmacksvarianten von Hamburgern, aber nicht auf die Gefahren und Schutzmöglichkeiten vor einer tödlichen Krankheit. Man vertraut darauf, daß ein schwarzer, drogensüchtiger Teenager in der U–Bahn einen Kugelschreiber dabeihat, um sich die Nummer aufzuschreiben, unter der er sich erkundigen kann, was denn eigentlich gefährliche Körperflüssigkeiten sind. Republikanische Moralisten und fundamentalistische Evangelisten wittern ihre historische Stunde zur Besserung der Nation und predigen Abstinenz und eheliche Treue gegen die Strafe Gottes. Der Rest ist Schweigen, tötliches Schweigen. Jetzt, im Jahre 1987, hat sich zum ersten Mal der oberste Gesundheitsaufseher der Vereinigten Staaten, der Surgeon General, ein konservativer Mann und militanter Abtreibungsgegner, entschlossen, öffentlich zu sagen: „Der einzige Schutz gegen AIDS neben Abstinenz ist die Benutzung eines Kondoms.“ Ein Sturm der Entrüstung über die vulgäre Offenheit und die Propagierung sexueller Freizügigkeit erschütterte daraufhin seine Partei. Aber es ist auch nicht so, daß nichts getan würde. 17 Kondome für 20.000 Gefangene Im New Yorker Stadtgefängnis hat man sich entschlossen, den 17 nachweislich AIDS–kranken Häftlingen Kondome auszuhändigen, obwohl Sexualkontakte selbstverständlich verboten sind - probeweise... Man kann nur hoffen, daß unter den 20.000 Deliquenten von Rikers Island diese 17 Präservative reichlich Anwendung finden. Die freie Ausgabe von Einwegspritzen wird nicht einmal erwogen. Über die Aktion für die AIDS–Hilfe suchte man anderntags in den New Yorker Medien vergeblich. Weder dem lokalen TV noch den Zeitungen waren die 20.000 Marschierer eine Notiz wert. Gabriele Dietze