Kolumbien - ein Krieg auf Sparflamme

■ 7.000 Bauern nehmen achttägigen Fußmarsch auf sich, um beim Sonderminister für Frieden, Carlos Ossa Escobar, ihre Beschwerden vorzutragen / Sie erfahren ständige Übergriffe durch die Militärs, weil sie in einem Gebiet wohnen, wo die Guerilla stark ist / Minister sagt mehr Staatsanwälte zur Überprüfung der Fälle zu

Aus Bogota Thomas Schmid

Acht Tage lang waren sie unterwegs. Mit Kind und Kegel zogen sie von Yondo los, ihrem Dorf im mittleren Magdalena, einer fruchtbaren Gegend im Zentrum Kolumbiens, um die Entmilitarisierung ihrer Region zu fordern. Schlafen mußten sie draußen, trotz Regenzeit. Fast 7.000 Personen, etwa die Hälfte des Dorfes, haben sich auf den „Exodus“ begeben, wie die Bauern von Yondo ihren Protestmarsch gegen die ständigen militärischen Übergriffe nennen. Aus anderen Dörfern haben sich zahlreiche Campesinos angeschlossen, und so lagern nun etwa 15.000 Personen, knapp die Hälfte von ihnen Kinder unter sechs Jahren, seit vier Tagen in Remedios, einem abgelegenen Nest, das zehn Autostunden von Medellin, der nächstgrößten Stadt, entfernt ist. Sie haben alles in Beschlag genommen, den Dorfplatz, die wenigen Kneipen, die Straßen. Schule und Kindergarten sind zur Massenherberge geworden. Überall Decken und Hängematten. Doch noch mehr haben sich draußen, rund ums Dorf, unter Plastikplanen niedergelassen und braten Bananen und kochen Yuca–Wurzeln. „Wir werden nach Medellin marschieren, und notfalls sogar nach Bogota, wenn Minister Carlos Ossa Escobar nicht zu uns kommen will“, hatten sie verkündet. Aber soweit kommt es nicht. Punkt zwölf Uhr fliegt am Freitag (22.05.) der Sonderminister, der für die Überwachung des Friedens zuständig ist, im Hubschrauber ein, begleitet vom Gouverneur aus Medellin, vom General, der die Truppen in der Region befehligt, und vom Menschenrechtsexperten der Bundesanwaltschaft. In weiten Teilen Kolumbiens herrscht Krieg - allerdings auf Sparflamme. Täglich kommt es zu Scharmützeln zwischen Soldaten und Guerrilleros, täglich tauchen Opfer gedungener Killer–Banden auf. In der Regel sind es lokale Linkspolitiker, Bauernführer, auch mal engagierte Priester. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Guerillaorganisationen sind keine Seltenheit, und hin und wieder werden vermeintliche oder echte Spitzel und Infiltranten mit der Pistole aus dem Weg geräumt. Die Kolumbianer nennen diese Befindlichkeit ihres Landes kurzum „violencia“, Gewalt. Sie ist quasi Sediment und Substrat der politischen Kultur Kolumbiens, eine Mischung aus regulärem und „schmutzigem Krieg“, aus Delinquenz und privater Abrechnung. Daß gerade das mittlere Magdalena besonders stark von der „violencia“ heimgesucht wird, hat historische und aktuelle Ursachen. Seit über 20 Jahren hat sich die kommunistische FARC, die mit Abstand stärkste Guerilla des Landes, in der Region festgesetzt. Als einzige Guerillaorganisation befindet sie sich - offiziell jedenfalls - im Waffenstillstand mit den Regierungstruppen. Die „patriotische Union“ (UP), eine Par tei, die im vergangenen Jahr auf die Initiative der FARC hin gegründet wurde, hat an den letzten Parlamentswahlen teilgenommen und stellt Abgeordnete in Bogota. In Yondo, Remedios und Segovia hat die UP etwa 60 Prozent der Stimmen erhalten. Seither ist hier der Teufel los - oder vielmehr das Militär. In Yondo hatte mir Mario Cuartas Gonzalez, der kommunistische Bürgermeister des Dorfes, einen Ordner voll Flugschriften und Pamphleten gezeigt, unterzeichnet mit „antikommunistische Liga“, oder „Tod den Revolutionären“. - „Nein, Todesschwadronen gibt es hier nicht“, meint der Bürgermeister, der in seinem Aktenkoffer immer einen Revolver mit sich führt, „das drucken alles die Militärs da vorne.“ Da vorne - das ist das Militärlager am Eingang des Dorfes. Hinter Sandsackburgen liegen Soldaten, das Gewehr im Anschlag. Als ich den Kommandanten des Militärlagers treffen will, um ihn mit den Anschuldigungen des Bürgermeisters zu konfrontieren, werde ich erst mal richtig ins Verhör genommen: „Was halten Sie von Kolumbien? Wo schlafen Sie? Was halten Sie vom Kommunismus? Was wollen Sie hier?“ Wie aus dem Maschinengewehr rattern die Fragen. Man läßt mich vier Stunden warten. Schließlich teilt der Kommandant trocken mit, er sei nicht autorisiert, mit der Presse zu sprechen. Ich möge mich an den General in Bucaramanga wenden. Dieser sitzt in seinem Büro drei Autostunden vom Geschehen entfernt. Dorthin schickte der Kommandant auch die Bauern, wenn sie sich beschwerten. Doch die sind diesmal in die entgegengesetzte Richtung losgezogen - acht Tagesmärsche bis nach Remedios. Dort sitzen nun 20 Delegierte aus fünf Dörfern der eingeflogenen Prominenz gegenüber. Der Tagungsort ist ein schlichtes Klassenzimmer mit kahlen, grauen Wänden. Das einzige Dekor ist der Gekreuzigte, darunter steht geschrieben: „Libertad y orden“ - Freiheit und Ordnung. Die Verhandlung findet insofern öffentlich statt, als die Fenster nur aus Rahmen bestehen, durch die sich etwa hundert Köpfe quetschen, um den Tausenden, die hinter ihnen stehen, Bericht zu erstatten. Der Reihe nach ergreifen die Bauern das Wort. Alles hagere Gestalten, gegerbte Gesichter unter breitkrempigen Hüten. Dem einen haben die Soldaten das Haus abgefackelt, dem anderen wurden die Tiere abgestochen. Die Namen von Mißhandelten, Verletzten und Toten fallen. Ein Gemeinderatspräsident, UP–Mitglied, spricht von den vielen Morddrohungen, die er erhalten hat - landesweit wurden bereits über 350 Parteimitglieder der UP, die gerade etwas länger als ein Jahr besteht, hingemordet, unter ihnen Parlamentarier, Bürgermeister und Gemeinderatsmitglieder. Von Judas–Löhnen für die Denunziation von UP–Mitgliedern ist die Rede und davon, daß die Militärs die Lebensmitteleinkäufe der Bauern kontrollieren, um zu verhindern, daß sie heimlich die Guerilla beliefern. „Unsere erste und wichtigste Forderung“, faßt nach zwei Stunden Fernando Alvarado, der Präsident der Bauernbewegung, ein junger Mulatte aus Yondo, schließlich zusammen, „ist die Entmilitarisierung der Zone.“ Das aber stehe außerhalb jeder Diskussion, stellt Ossa Escobar fest. Der salopp gekleidete, etwa 40jährige Sonderminister für Friedensfragen hat sich die Beschwerden aufmerksam angehört und Notizen gemacht. Grundsätzlich, erklärt er, müsse sich der Staat bei Strafe des Verlusts seiner Souveränität, die Möglichkeit offen halten, nach Belieben jederzeit und überall militärisch präsent zu sein. Und in einer Zone, in der die Guerilla präsent ist, allemal. Im übrigen müßten die Übergriffe der Militärs, falls es sie gebe, den zuständigen Behörden vorgetragen werden, die die Ermittlungen dann aufnehmen würden. Zweifellos haben die Bauern, die hier versammelt sind, in ihrer übergroßen Mehrheit keine Angst vor der FARC, sympathisieren wohl mit ihr oder ziehen sie zumindest der Armee vor. Sicher gibt es auch Bauern, die die FARC mit Stumpf und Stiel ausgerottet wünschen. Doch sie sind nicht hier versammelt, und in dieser Gegend dürften sie eine kleine Minderheit bilden. Nach acht Stunden Verhandlung zeichnen sich die Umrisse einer möglichen Übereinkunft ab. Die Atmosphäre zwischen Minister, General und Campesinos entspannt sich. Die Verbissenheit weicht dem Scherz. „Morgen klopfen wir die Resultate fest“, beendet der Minister die Debatte, „jetzt gehen wir einen trinken.“ Doch daraus wird nichts. Der kommunistische Bürgermeister von Remedios hat angesichts der herbeigeströmten Bauernmassen das „ley seca“ (Trockenheitsgesetz) verhängt, um die Gefahr von Auseinandersetzungen, die hier oft mit der Machete ausgetragen werden, zu minimieren. Kein Alkohol also. Samstag. Nach fünf Stunden weiterer Verhandlungen wird eine Übereinkunft schriftlich fixiert: freien Zugang zu den Dörfern in der militarisierten Zone und zusätzliche Staatsanwälte und Ermittlungsrichter für die Region, um die Übergriffe der Armee zu untersuchen. So recht zufrieden sind die Bauern nicht. Ihre Hauptforderung nach Abzug der Militärs haben sie nicht durchgesetzt. Versprechen haben sie schon viele gehört. Und ob sich die Militärs vor Ort an die Übereinkunft auch wirklich halten werden? „Wenn sich nichts ändert, werden wir den nächsten Exodus starten“, geben sie dem Minister mit auf den Weg. Dieser fliegt in sein Kabinett nach Bogota zurück. Der 7.000köpfige Treck aus Yondo tritt den Rückmarsch an. Acht Tage zu Fuß. Eine Straße nach Yondo, das bislang nur auf dem Flußweg an das Verkehrsnetz angeschlossen ist, hatte ihnen der Minister schon beim letzten „Exodus“ versprochen.