„Sind wir eine linke oder eine neue Partei?“

■ Grüne Realos haben sich in Frankfurt getroffen / Kritik in den eigenen Reihen an fehlendem Durchsetzungswillen in der eigenen Partei / Schily: Grüne „bedeutungslose Zuschauer von Genschers Außenpolitik“

Von Reinhard Mohr

Frankfurt (taz) - „Dieser Haufen will nicht politisch kämpfen. Ihr wollt da hingetragen werden!“, rief Udo Knapp, grüner Bundestagsmitarbeiter, in den überfüllten Saal. Rund 300 „Realos“ hatten sich am Himmelfahrtstag zum ersten bundesweiten Strömungstreffen versammelt. Im vierten Stock des Frankfurter „KBW–Hauses“ waren Presse, Funk und Fernsehen zur Stelle, um der politischen Offensive der „Realpolitiker“ gegen die „Fundamentalisten“ beizuwohnen. Nach sechsstündiger Aussprache über die Lage nach den verlorenen Landtagswahlen und die Zukunft der Partei verabschiedeten die Anwesenden eine Resolution des kleinsten gemeinsamen Nenners und forderten einen „Strategieparteitag der Grünen zur Wahlauswertung und Kursbestimmung“ unmittelbar nach den Wahlen in Bremen und Schleswig–Holstein. Zuvor soll ein weiteres „inhaltliches Treffen“ der Realos stattfinden, auf dem vor allem über die „Wiedergewinnung der ökologischen Meinungsführerschaft der Grünen“ diskutiert werden soll. Auf jeden Fall soll das innerparteiliche Engagement der Realos ebenso verstärkt werden wie die „Diskussionsangebote für die Gesamtpartei und die Öffentlichkeit“. Udo Knapp hatte nicht ganz recht. Kämpfen wollten sie schon, die Realos, aber ihnen fehlte die radikale Kraft. Das wurde nirgends deutlicher als in der Debatte um die Frage, ob die Grünen eine „linke“ oder eine „neue“ Partei seien oder schlicht und einfach: „vorne“. Winfried Kretschmann blies für die Ökolibertären zum Angriff und spulte nach der Kritik an der „programmatisch perspektivlosen Realo–Gefolgschaftstreue“, diesem „Ambiente verschwitzter Männergemeinschaften“, einen Fragekatalog ab: „Wie halten wir es mit Aufklärung und Moderne? Sind wir eine fortschrittliche Partei? Sind wir für Egalität oder den Erhalt sozialer Gefüge? Sind wir für kollektivistische Lösungen oder für eine radikale Mittelstandspolitik? Wie sinnvoll ist eine Abrüstung des Politischen?“ Sein Mitstreiter Thomas Schmid fragte, warum es auch bei den Realos kaum möglich sei, über die „Zurückdrängung industrieller Arbeit“ und das „Scheitern des sozialistischen Projekts“ zu dis kutieren. Dagegen hatten die „linksökologischen“ Realos kaum mehr als dünne Phrasen zu bieten. Joschka Fischer, der das Etikett „neue Partei“ seinerseits für „dämliches Geschwafel“ hielt, kam über die Definition von „links“ als Verpflichtung gegenüber den „sozial Schwachen“ nicht hinaus. Hubert Kleinert setzte „Demokratie“ gegen „autoritäre Antworten“ und bekannte, bei dem Wort „Partei der Mitte“ überkomme ihn eine Gänsehaut. Niemand ging auf Gisela Erlers Plädoyer für den „sanft–grün innovativen Mittelstand“ ein, der die Hausfrau als Zentralfigur neuer sozialer Kreativität inthronisiert. Und die Bundestagsabgeordnete Christa Vennegerts erntete auch nur freundlich–heitere Zustimmung, als sie am Beispiel der politischen Sandkastenspiele des grünen MdB Eckart Stratmann den grotesken Realitätsverlust und den Mangel an Diskussionskultur anprangerte: „Wenn der Eckart im Alleingang die Vergesellschaftung der Werften propagiert, dann ist das für die Grünen gar nicht mehr witzig.“ Vor lauter Fensterreden in die Fernsehkameras überließen die „Fischer–Realos“ nicht nur den Ökolibertären die Aura theoretischer Substanz, sondern verzichteten auch darauf, einen wunden Punkt in der grünen Partei intensiver als nur in Form von Andeutungen zu behandeln: das „Parteihornochsentum“ (Schmid), die „Kultur von Denkverboten“ (Kleinert), die „tibetanischen Gebetsmühlen des Radikalismus“ (Fischer). Nur Otto Schily führte zwei Beispiele an: Auch die „Realo–Glaubenskongregation“ habe sich unter einer Tarnkappe versteckt, als er in der Bundestagsfraktion die Frage aufgeworfen habe, ob es richtig sei, daß Parlamentarier zum Boykott der Volkszählung aufrufen; und bei der gegenwärtigen Abrüstungsdebatte seien die Grünen zu „bedeutungslosen Zuschauern von Genschers Außenpolitik“ geworden.