Spaniens „Speiseöl“–Prozeß: ein Skandal

■ Heute beginnt der „Jahrhundertprozeß“ gegen Speiseölpanscher, die an über 600 Toten schuld sein sollen / Doch längst nicht alle hatten dieses Öl genossen / Auch die These, ein Bayer–Pestizid sei die Ursache der Erkrankungen, ist falsch / Neue Vermutungen über B–Waffen–Versuche einer US–Basis

Von H. Lorscheid / L. A. Müller

In Madrid beginnt heute der Prozeß gegen 38 Ölhändler, die für die größte Nachkriegskatastrophe des Landes verantwortlich gemacht werden: Über 600 Tote und nahezu 25.000 Erkrankte forderte nach offiziellen Angaben bisher die Massenerkrankung vom Mai 1981. Doch schon bei Prozeßbeginn ist klar, daß die falschen Angeklagten vor Gericht stehen. Das in den spanischen Medien als „größter Prozeß des Jahrhunderts“ bezeichnete Verfahren droht zur Blamage für die Regierung zu werden. Denn für die von ihr beharrlich verbreitete These, vergiftetes Speiseöl, von Ölpanschern über fliegende Händler in Umlauf gebracht, sei die Ursache der tödlichen Epidemie, gibt es keine schlüssigen Beweise, im Gegenteil. Der eigens für das Verfahren eingesetzte Richter Alfonso Barcala wird auch mit seiner 250.000 Seiten zählenden Anklageschrift und mit den über 200 angekündigten Sachverständigen an den Ungereimtheiten der Speiseöl–These nicht viel ändern können: - Zahlreiche erkrankte Personen hatten überhaupt nicht das gepanschte Öl verzehrt; - im Dezember 1982, also 20 Monate, nachdem das Öl aus dem Verkehr gezogen war, wurden neun neue Erkrankungen registriert; - Hunderttausende haben das vermeintlich giftige Öl verzehrt - ohne geringste Krankheitsanzeichen. Auch bei Autopsien konnte kein Gift gefunden, in Tierversuchen keine Erkrankungen nachgewiesen werden, und in dem gepanschten Öl wurde kein giftiger Stoff entdeckt. Die Zahl der Opfer steigt noch Die Ölpansch–Version wurde trotzdem zur gültigen Wahrheit gemacht: Die Opfer der Massenerkrankung kamen nur dann in den Genuß von Rehabilitations–, Invaliden– oder Waisenrenten, wenn sie erklärten, im fraglichen Zeitraum „illegales“ Speiseöl benutzt zu haben. Der Staat zahlte an 7.000 Opfer die für spanische Verhältnisse beträchtliche Summe von umgerechnet 470 Millionen Mark. Doch die Wut der Betroffenen bleibt groß. Tausende sind nach wie vor schwer krank. Die Zahl der Toten steigt immer noch, und das Leiden der Erkrankten ist schrecklich: Lähmungserscheinungen mit Muskelschwund, starke Wachstumsveränderungen, Abmagerungen bis zum Skelett, Haarausfall und verkrüppelte, krallenartige Hände und Füße. Antonio Noriega, Direktor eines großen Madrider Krankenhauses, rechnet sogar damit, daß nur wenige der Patienten einer Krebserkrankung als Spätfolge entgehen können. Ehrenerklärung für Bayer In den letzten Wochen hat eine Theorie wieder Hochkonjunktur, die schon längst begraben schien und von dem ehemaligen Direktor des Königlichen Krankenhauses für Infektionskrankheiten in Madrid, Antonio Muro, zuerst verbreitet wurde. Muros These erregte gerade in der Bundesrepublik großes Aufsehen: das Bayer– Pestizid „Nemacur“, auf Tomaten gespritzt, sei die Ursache für die Epidemie. Die zuerst von dem Nachrichten–Magazin Diario 16 publizierte Geschichte wurde auch von Europa–Abgeordneten der Grünen verbreitet. Muro lieferte zwar zahlreiche Interviews und Stories für die spanischen Illustrierten, doch er legte nie die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Untersuchungen vor. Am 23. Dezember 1985 mußte Diario 16 dann einen peinlichen Rückzieher machen: Mit einer Ehrenerklärung für Bayer zog das Blatt seine Story von den vergifteten Tomaten schnell zurück. Weder das Krankheitsbild noch die Ausbreitung stimmten überein. Nach millionenfacher Anwendung des Bayer–Produktes in 38 Ländern, darunter den USA, seit über zehn Jahren wurde nirgendwo sonst von Erkrankungen dieser Art berichtet. Die Symptome bei einer Vergiftung mit „Nemacur“ sind völlig andere als die der spanischen Epidemie: Pupillenverengung, starke Speichel– und Schleimhautsekretion sowie unwillkürliche Muskelzuckungen. Außerdem wäre das Gift auch leicht im Blut nachweisbar. Unklar blieb auch, wie im April 1981 geerntete Tomaten noch Neuerkrankungen bis zum Dezember 1982 hätten auslösen können. Infektion statt Vergiftung? Fehlende wissenschaftliche Belege wurden damals durch Legenden um den „unerbittlich forschenden“ Muro ersetzt: Er selbst sei auch an den Folgen der Krankheit gestorben. Etliche Zeitungen, auch die taz, berichteten, daß er Selbstversuche mit den vermeintlich giftigen Tomaten gemacht habe (die hätten zu diesem Zeitpunkt ein Jahr alt sein müssen) - man berief sich dabei auf den mittlerweile toten Muro. Tatsächlich aber hat Antonio Muro nie behauptet, solche Versuche gemacht zu haben. In einem Interview sprach er selbst nur von „impfen“. Auf Nachfragen erzählte er dann von fehlenden Schutzmaßnahmen. Bei seinen Untersuchungen an den Patienten arbeitete er ohne Atemschutz und Maske. Das Gesundheitsministerium hatte nach Bekanntwerden der Krankheit eine entsprechende Vorschrift erlassen. Nun gibt eine solche Schutzmaßnahme bei chemischen Vergiftungen keinen Sinn - wohl aber bei Infektionen. Hat sich Muro also infiziert? In der Tat lassen die Symptome, Ausbreitung und Begleiterscheinungen der Epidemie eher den Schluß zu, daß es sich um biologische Erreger handelte. Warum also setzten Gesundheitsbehörden und staatliche Experten alles daran, diese Version als „Spinnerei“ abzutun? Möglicherweise liegt die Antwort dort, wo die Massenerkrankung ihren Ausgang fand: in Torrejon de Ardoz, einem 70.000 Einwohner zählenden Vorort von Madrid, 23 Kilometer vom Zentrum der Hauptstadt entfernt. Dort, ganz in der Nähe eines US– Luftwaffenstützpunktes, erkrankten die ersten Menschen. Dort starben gehäuft Vögel zu Be ginn der Epidemie - wohl kaum durch den Genuß vergifteter Lebensmittel. Anfangs forderte die Regierung sogar dazu auf, die toten Vögel zu verbrennen. B–Waffen als neue Hypothese Befürchtungen der Betroffenen in Torrejon, die Erkrankung ginge möglicherweise auf Versuche oder einen Unfall mit biologischen Waffen auf der US–Basis zurück, wurden von amerikanischen Wissenschaftlern auf einer Pressekonferenz am 15. Mai 1981 schlicht als „lächerlich“ abgetan. Erkrankungen unter Soldaten wurden offiziell geleugnet, obwohl Einzelfälle in der Presse bekannt wurden. Das Militärgelände, das auch über ein eigenes Hospital verfügt, blieb für spanische Virologen gesperrt. Über Regionen mit geringerer Erkrankungsdichte wurden spezifische statistische Erhebungen veröffentlicht, die - wie es naheliegend wäre - in Torrejon nicht gemacht wurden. Der Wohnort des angeblich ersten Opfers, in zahlreichen rührseligen Geschichten verbreitet, wurde kurzerhand von Torrejon nach Madrid verlegt. Der Luftwaffenstützpunkt ist das Hauptquartier der 16. Luftflotte, das ranghöchste Kommando der US–Luftwaffe in Südeuropa. Dort befinden sich unter anderem die Abteilung 313 des Air Force Technical Applications Center (AFTAC), des Zentrums für die Anwendung technischer Entwicklungen der US–Luftwaffe. Das AFTAC arbeitet in Spanien zur Unterstützung der „Olive Harvest“–Luftprobenbeschaffung, die mit U–2–Flugzeugen durchgeführt wird. Außerdem ist die „Wetterstation Torrejon“ auf der Basis installiert. Damit wäre dort ein Teil des notwendigen Equipments vorhanden, das für sogenannte Aerosolforschungen mit B–Waffen in der Luft benötigt wird.