„New AIDS“

■ Von der Krankheit der Außenseiter zur gesellschaftlich übergreifenden Seuche

Seit AIDS nicht mehr nur die sogenannte Risikogruppe betrifft, sondern nun auch Leute, die bisher selbstgerecht jede Betroffenheit von sich wiesen, ist die Öffentlichkeit alarmiert. Eine „New–AIDS– Welle“ rollt durch die Medien. Es läßt sich kaum noch unterscheiden, ob es sich um längst überfällige Warnungen oder gefährliche Hysterien handelt. Selbst in politische Auseinandersetzungen ist die AIDS–Angst eingebrochen. Die Krankheit scheint selbst die Unionsparteien zu entzweien.

„Man macht sich kein Bild. Wir kommen zu nichts anderem mehr, als ans Telefon zu gehen“, stöhnt Dr. Ulrich Marcus, „jetzt wollen plötzlich alle einen HIV–Test machen lassen.“ Der junge Arzt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Robert–Koch–Institut des Bundesgesundheitsamtes in Berlin. Seit Jahren führt er dort mit Kollegen die AIDS–Diagnostik durch, zapft Blut ab, nimmt sich Zeit für lange Beratungsgespräche. „Manchmal bedürfte es einer weiteren Stunde des gemeinsamen Rauchens und Trinkens aus der mitgebrachten Whiskeyflasche“, beschreibt er tagebuchartig Einzelfälle aus seiner Praxis, „um den Mann halbwegs zu überzeugen, daß er für seine Tochter keine Gefährdung darstellt.“ Gerade das Eindringen des Virus in die heterosexuelle Welt hat er immer wieder als schrecklicheren Einbruch erlebt als bei der schwulen Subkultur. „Nicht weil der einen Welt Recht geschieht und der anderen Unrecht, sondern weil die Konsequenzen die einzelnen um so radikaler aus den Lebenszusammenhängen reißen, je „normaler“ diese sind. In der Schwulenszene hat man sich eingerichtet, man weiß, womit man es zu tun hat. Die anderen sind vereinzelt, sie können mit niemandem darüber reden.“ Doch seit einiger Zeit finden zuneh mend auch andere Leute den Weg ins Institut. „Vorsicht Infektionsgefahr“. Einen signifikanten, plötzlichen Anstieg der Blutproben mit einer HIV–Positivreaktion kann der Mediziner allerdings nicht ausmachen. Nicht nur hier an der virologischen Abteilung des Bundesgesundheitsamt ist der Terminkalender für die nächsten vierzehn Tage ausgebucht. Die Situation der Labors in der Bundesrepublik unterscheidet sich kaum von der WestBerlins. Die Öffentlichkeit hat das Thema AIDS wiederentdeckt. Und auch die von bayerischem Territorium an alle Stämme getrommelte Meldepflichtsdebatte findet bereits ihren Widerhall in den Polikliniken. Immer mehr Münchner lassen sich vorsichtshalber in Saarbrücken Blut abzapfen, teilte vergangene Woche der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Saarländischen Landtags, der SPD–Abgeordnete Armin Lang, mit. „Wir erhalten bundesweit zur Zeit ungefähr 3.000 Anrufe täglich. Die Zahl derer, die sich berechtigterweise Sorgen um eine mögliche Infektion mit dem HIV– Virus machen, ist jedoch nahezu gleich geblieben“, meldet der Vorstand der Deutschen AIDS– Hilfe per Rundschreiben; der Ansturm paralysiere die Arbeit. Tatsächlich vermerkt der Frankfurter AIDS–Arzt, Prof. Dr. Stille, für den seine Prognose, „daß AIDS mehr Tote kosten wird als der zweite Weltkrieg“, noch tiefgestapelt ist, einen „Anstieg von Infektionen bei Frauen, zum Teil Heroinsüchtige, aber auch alarmierende Einzelfälle bei Frauen aus erstklassigen Sozialverhältnissen. Frauen, die auf keinen Fall Sexualextremistinnen sind. Einmal der Falsche, das kann genug sein. Wir haben immer betont, die Homosexuellen sind nur das Indikatorkollektiv, die heterosexuelle Welle läuft im gleichen Takt hinterher.“ Im Frankfurter Frauengefängnis ist inzwischen nach Angaben des hessischen Justizministeriums jede vierte Gefangene infiziert. Seit 1985 führt die Universi tätsfrauenklinik Berlin–Charlottenburg als erste in der Bundesrepublik bei allen Schwangeren einen AIDS–Test mit ausdrücklicher Zustimmung der werdenden Mütter durch. Von 1.444 untersuchten Frauen war jede zweihundertste infiziert, berichtete der Oberarzt Prof. Manfred Stauber auf der Tagung der „Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie. Seit auch Frauen erkranken, die nicht zu den Risikogruppen gehören, weckt ein plötzlich unüberhörbar einsetzendes Rauschen im ganzen Blätterwald die Nation. Die „Homoseuche“ wurde zur „Volksseuche“ erklärt. Springers größtes Blatt, von „Tagesshowsprecher“ Rudi Carell als „AIDS“–Zeitung verspottet, produziert AIDS–Angst in Serie. Am Montag die Toten, am Dienstag „Sex im AIDS–Jahr“. Die ersten angeblich zu ihrer Einstellung zu Kondomen befragten und abgelichteten Frauen haben bereits ihren Anwalt in Bewegung gesetzt. Am Donnerstag die AIDS–kranke Lehrerin nach Zungenkuß, am Freitag die Schuldgefühle einer Mutter: „Kind, was habe ich Dir angetan.“ Und dann alle in Chor: „So haben wir uns angesteckt.“ Prof. Manfred Steinbach vom Bundesgesundheitsamt, der eine „ausgeprägte Kampagne nur begrüßen kann“, sieht bereits die Gefahr der Überfütterung. Er fürchte nur die „selbsternannten Experten“, die noch nie einen Patienten erlebt haben und Volksreden halten. Dieser Werbezug für den AIDS–Test aber macht Dr. Ulrich Markus nicht gerade glücklich: „Manchmal wünschte ich, die Journalisten, die durch ihre absurden reißerischen Geschichten die Hysterie anheizen, müßten sich auch mit den Folgen beschäftigen.“ „Eigentlich könnten wir Homosexuellen ja so etwas wie Erleichterung verspüren“, kommentiert der Rowohlt–Autor Matthias Frings das neue Erwachen. „Zum ersten Mal keine Titelstories mit halbnacktem kettenbehängtem Bürgerschreck und der perfiden Bildunterschrift: „Homosexueller“, was für den Schwulenpolitisch engagierten Schriftsteller soviel Sinn macht „wie das Bild eines Tiefseetauchers mit der Unterzeile: Heterosexueller“. Vor vier Jahren prophezeite Frings, als „übersensibler Betroffener“ belächelt, die Politiker würden erst aufwachen, wenn andere als Schwule und Fixer betroffen sind. Heute verursacht ihm seine Prognose „einen schalen Geschmack im Mund“. Für ihn hat es der CSU–Gesundheitspolitiker Faltlhauser auf den Punkt gebracht, als dieser Widersacher mit dem Hinweis provozierte, „daß nicht nur einige Homosexuelle dahinsiechen, sondern auch Söhne und Töchter von Spitzenbeamten, Politikern und Medienfürsten“. Für Matthias Frings heißt das, abgesehen davon, daß auch Kinder aus gutem Hause schwul sein können, „die immer noch 76,8 Prozent homosexueller AIDS–Patienten waren Opfer zweiter Klasse“. Doch das Virus kennt keine Klassenschranken. Kuno kruse