I N T E R V I E W Straftatbestand AIDS–Übertragung?

■ Der Berliner Rechtsanwalt Stefan Reiß nimmt Stellung zu dem Vorschlag des Präsidenten der Bundesärztekammer auf strafrechtliche Verfolgung bei vorsätzlicher AIDS–Infizierung

taz: Der Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, hält es für überlegenswert, HIV–positive Personen strafrechtlich zu verfolgen, wenn sie andere wissentlich mit dem AIDS–auslösenden HIV–Virus infizieren. Stefan Reiß: Wenn tatsächlich jemand Leute, die ihm schon immer quer gelegen haben, auf eine elegante Tour infiziert, indem er mit ihnen schläft, wäre das sicher ein vernünftiger Grund, das strafrechtlich zu verfolgen. Praktisch ist das ganze etwas albern, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß jemand so vorgeht. Und falls doch, wäre das rein medizinisch gar nicht zu beweisen. Wie will jemand, bei Inkubationszeiten von fünf Jahren, den Nachweis bringen, daß er sich gerade bei der bestimmten Person infiziert hat. Daß man beweist, daß diese Person es sein könnte, heißt nicht, daß die Person tatsächlich die Infektionsquelle war. Die Forderung ist also moralisch verständlich, aber praktisch ohne jeden Effekt. Sie heben auf die Vorsätzlichkeit ab. Aber die Freude am Beischlaf und gleichzeitige Verheimlichung der Infektion ist doch zumindest fahrlässig. Es wäre eine denkbare fahrlässige Verhaltensweise, wenn ich zwar weiß, daß ich positiv bin, aber denke, nicht jeder steckt sich an, und hoffe, daß nichts passiert. Doch auch hier stellt sich das Problem des Nachweises der Ursächlichkeit. Ermittlungverfahren würden wegen der Schwierigkeiten bei der Beweisführung schnell eingestellt. Es sei denn, der Kläger könnte nachweisen, daß er in den letzten fünf Jahren keinen anderen Sexualpartner gehabt hat. Muß man nicht davon ausgehen können, daß man von einem neuen Partner über eine HIV–Infektion informiert wird? Es gibt auch das Problem der Selbstgefährdung. Ich gefährde mich doch selbst, wenn ich heutzutage, wo jeder Mensch von AIDS redet, und nicht auf ein Kondom bestehe. Das ist doch ein bewußtes Risiko. Solange die andere Person nicht ausdrücklich sagt, sie sei beim HIV–Test gewesen, habe dann drei Monate abstinent gelebt, sich noch einmal testen lassen, bringe ich mich selbst in Gefahr . Anderes Beispiel: Ein Junky fixt andere mit seiner infizierten Nadel an. Gerade bei den Junkies ist das Bewußtsein ja noch höher, daß sie, wenn sie mit jemandem die Nadel teilen, spätestens jetzt ein HIV–Virus einfangen können. Wenn sie es trotzdem machen, nehmen sie dies Risiko bewußt in Kauf. Oder: Ein infizierter Gefangener beißt den Wärter blutig. Das wäre die einzige Ausnahme, wo ich auch ganz heftige Bedenken habe, daß man das auf irgendein Eigenrisiko reduzieren kann. Aber man müßte dem Gefangenen, nachdem er die Körperverletzung - oder vielleicht wäre das sogar als Mordversuch zu werten - nachweisen, daß er sich das auch so vorgestellt hat. Auch der Aufseher einer Strafanstalt hat ein Sexualleben und das müßte er dann offenbaren. Der käme in die gleiche peinliche Situation, in die jede vergewaltigte Frau kommt, die ja auch immer gedrängt wird, ihr Sexualleben offenzulegen, um einen Schaden nachzuweisen. Interviewer: Kuno Kruse