Weihnachtszeit, Halbwertzeit der Ängste

■ Auch die Tschernobyl–geschockten, alternativen und umweltbewußten Menschen unter uns wollen sich das Fest nicht verderben lassen / Unabhängige Strahlenmeßstelle stark beansprucht / Alternativfleischereien machen gute Weihnachtsgeschäfte

Aus Berlin Kuno Kruse

Gerade rechtzeitig zur Weihnachtszeit war das im Sommer gesammelte Geld gezählt und die Berliner unabhängige Strahlenmeßstelle konnte noch vor dem Weihnachtsfest eröffnet werden. Der kostspielige „Multicanalanalysator“ und „Reinstgermanindetektor“ stehen pausenlos unter Strom. In den Regalen stapeln sich Schokoladen, Honigtöpfe, Wildfleisch und Karpfen. Der junge Pysiker Peter Plieningen stellt mit ruhiger Hand eine Schale Haselnüsse in den Bleibottich. Gelassenheit, nicht nervöser Spannung herrscht in dem frisch geweißten Laden beim Warten auf das Meßergebnis. Nach einer halben Stunde bildet sich auf der Lichtlinie des Bildschirms eine bizarre Erhöhung, einem schroffen Felsen ähnlich. 38 Becquerel Cäsium 137 notiert der Pysiker, Herkunftsort: Rheinland Pfalz. Er streicht sich über den dunklen Schnauzbart. „Eigentlich müßte man die Nüsse noch einmal ohne Schale messen, die ja nicht mitgegessen wird.“ Für die Auswertung hat er den Telefonhöhrer einen Moment neben den Apparat gelegt, der pau senlos geklingelt hatte. „Es sind vor allem Frauen, besorgte Mütter,“ sieht er noch einmal die Liste derjenigen durch, die schon gleich vom ersten Tag an telefonisch das Strahlentelegramm geordert haben, in dem die aktuell gemessene Belastung der Lebensmittel bekanntgegeben wird. „Man merkt schon, daß Weihnachten vor der Tür steht,“ zieht sein Kollege Bernd Lehmann Bilanz der ersten Meßtage. Volle Weihnachtsteller, fette Gänse In Schokoladenweihnachtsmänner gegossene radioaktive Milch, Feigen und Datteln, deren Trocknung kaum eine Halbwertzeit dauerte, müssen beunruhigte Eltern fürchten lassen, auf prall gefüllten Weihnachtstellern am Abend der Besinnung die Sorgen wiederzufinden, die im Herbst bereits verdrängt waren. Doch die in Berlin gemessenen Ergebnisse haben auch etwas beruhigendes: Die Belastung des Hirschrückens lag unterhalb der Nachweisgrenze, und das australische Wildschweingulasch lag mit 50 Becquerel weit über den bayerischen. Auch die engagierten Väter bestellen diesmal ihre Weihnachts gans lieber bei der alternativen Fleischerei und überlassen das polnische Geflügel gern den Genossen in der Sowjetunion, die dieses Jahr, vielleicht auch aus schlechtem Gewissen, fast die Hälfte der polnischen Tiere aufgekauft hat. Dabei bedeutet die Wahl einer polnischen Gans u.U. einen unbelasteten Weihnachtsschmaus. Denn die Tiere haben nie in ihrem kurzen Mastleben einen strahlend blauen Himmel erlebt. Doch sein Vorrat an Holsteinischen Freiläufern wird knapp, erklärt Robert Niebach, von der „alternativen Fleischerei“ in Berlin Kreuzberg. Dabei hätte es für die 1982 eröffnete Fleischerei das Weihnachtsgeschäft 1986 schon fast nicht mehr gegeben. Nachdem die radioaktive Wolke vorbeigezogen war, blieb der Laden plötzlich leer. Beim Fleisch und bei der durch den Nitratverzicht ohnehin weniger farbenfroh zum Zubeißen einladende Wurst übte der verunsicherte Kunde Abstinenz. Jetzt erfährt man am Metzgertresen neben dem Preis auch gleich den Bequerelwert der Wurst. Und eine kreidebeschriebene Tafel über der Fliesenwand mit den Fleischerhaken fordert Verbrauchersolidarität: „Die Existenz vieler Kleinbetriebe steht auf dem Spiel.“ Selbsthilfeunterstützer „Netzwerk“ hatte das Hilfeersuchen des Metzgers bereits am Telefon abgewiesen: Ein Meisterbetrieb ist eben kein Kollektiv. In der „Szene“–Verwaltung, immer dem Zeitgeist um Jahre hinterher, hat man das neue Bedürfnis nach dem „Luxus“ von strahlenfreiem Hausmacherwurst und Pökelsalz noch nicht erkannt. Nicht nur die Kleinen bereitet diese sensible Käuferschicht Sorgen, auch bei den Großen lichtet sich gerade jetzt der Gabentisch. Die „Demeterzentrale“ liefert schon keine süße Sahne mehr und vom Jogurt gehen bereits die letzten noch von den Antroposophen freigegebenen Becher aus den Kühlregalen. „Wenn ich oben über dem Eingang von Ikea die Rentiere sehe, die dem Weihnachtsmann den Schlitten ziehen, dann muß ich schon einen Moment daran denken, daß in Schweden das verseuchte Rentierfleisch verbrannt wird“, sagt Anna. Die Lehrerin hat zum Rohrsessel auch gleich einen der auf dem Parkplatz angebotenen Tannenbäumen mitgenommen. Gerade der Baum der Treue und der Zuversicht aber, scheint wie kaum ein anderes Symbol des heilgen Festes, für Unsicherheit gesorgt zu haben. „Wann veröffentlicht ihr endlich die Strahlenbelastung von Tannengrün“, fordert Lisa aus der taz–Telefonzentrale, „die Leute rufen ständig an.“ Behütetes Krippenspiel Zumindest unterm Weihnachtbaum neben den Krippenspiel um die Mutter Maria scheint man die Kinder geschützt sehen zu wollen. Das „Ihr Kinderlein kommet“ mag manche Mutter in diesem Jahr richtig erschaudern lassen, deren „Entsetzen beim Blick in die Hölle“ wie die Bielefelder Soziologin Claudia von Werlhof in einen Rowolt–Sachbuch nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl ihre Gefühle beschreibt, „sich immer mehr auf dem Schmerz beim Anblick der Kinder konzentriert“. Der „Jüngste Tag“ scheint heute fester verankert in den Gefühlen zu sitzen, als der dialektische Materialismus seinerzeit in den Köpfen. Doch wenn gerade in diesem Jahr am Weihnachtsbaume die Lichter strahlen, kann die Stimmung nicht betrübt bleiben.“ Ich celebrier doch am Heiligabend nicht auch noch eine Strahlenmesse“, sagt Anna und bindet ihren Baum aufs Autodach.