AIDS stellt die Forscher vor wachsende Probleme

■ Traurige Forschungsbilanz / Bei mehr Infizierten als angenommen kam nach Frankfurter Studie die Krankheit zum Ausbruch / Der Erreger wechselt ständig seine Maske

Von Kuno Kruse

AIDS hat sich seit der ersten Diagnose an einem US–amerikanischen Patienten in weniger als fünf Jahren über den Erdball verteilt. 32.000 manifeste Erkrankungen wurden inzwischen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeldet. In der Bundesrepublik ist die Zahl der AIDS–Kranken von 375 im letzten auf 690 in diesem Jahr gestiegen. In Europa schätzt die WHO die Zahl der Infizierten auf mindestens 150.000, in den USA rechnen Versicherungsgesellschaften mit 1,5 Millionen. Zehn Prozent der Bevölkerung Zentralafrikas, so Experten, haben das gefährliche Virus im Blut. Laborforschungen und Langzeitstudien am Krankenbett geben unterdess zu wenig Hoffnung auf Heilung Anlaß. Nach fünf Jahren war bei einer Verlaufsuntersuchung in Frankfurt die Hälfte der Infizierten erkrankt. Und der Erreger wechselt ständig seine Tarnung. Gerd Schuster, Mitte dreißig, „fuhr Taxi“ und war gesundheitlich wie psychisch „eigentlich immer gut drauf“, wie er sagt. Die Nachtarbeit hat ihm nie etwas ausgemacht. Eine kleine Erkältung wird nicht richtig auskuriert, - „ich habe so etwas sonst in einer durchgetanzten Nacht weggeschwitzt“ -, es kommt zu einen Rückfall. Er fühlt sich schwach, spürt seine vermeintliche „Grippe“ jetzt vor allem in den Schultern. Als der Muskelkater nach fünf Monaten immer noch nicht abklingt, überweist ihn sein Arzt zur Abklärung der rätselhaften Symptome an eine Spezialklinik. Der Neurologe diagnostiziert Muskelschwund (Atrophie) im Schultergürtelbereich, erhebliche Schwäche und verzögerte Muskelreflexe in den Armen. Eine Biopsie ergibt Gewebeschwellungen und den beginnenden Zerfall von Muskelfasern. Der Laborbefund von Urin und Blut ist normal. Bis auf eins: Im Blut ließen sich HIV–Antikörper nachweisen. Franz Becker, Anfang zwanzig, bekommt im Urlaub einen epileptischen Anfall. Der vorläufige rätselhafte Höhepunkt eines Krankheitsverlaufs, der schon mittlerweile lehrbuchmäßig begonnen hatte: Müdigkeit, Nachtschweiß, Fieber, Gewichtsverlust und geschwolle Lymphknoten. Ein kleiner Hautfleck, der sich bei der histologischen Untersuchung als Krebs (Karposi–Sarkom) herausstellt. Franz hat einen sogenannten „Relatet Complex“, das Vorstadium von AIDS. Vor anderthalb Jahren hatte der Entdecker des HIV–Virus, Prof. Robert Gallo, in Wiesbaden die erstaunte deutsche Fachöffentlichkeit darüber unterrichtet, daß eine Infektion mit dem von ihm damals HTLV–III getauften Viren bei Neugeborenen eine Unterentwicklung des Gehirns verursacht hatten. Da zeigte kurze Zeit später Prof. Pohle vom Berliner Virchow–Krankenhausin Fortbildungskursen für niedergelassene Ärzte die ersten Röntgen–Aufnahmen von deutlich sichtbaren Ödemen im Gehirn AIDS–kranker Erwachsener. Inzwischen gehören Wesensveränderungen genauso zum Krankheitsbild wie Hautkrebsgeschwüre, Pilzbefall oder Lungenerkrankungen. Vielfältige neurologische Komplikationen machen aber bereits ein Drittel der Folgeerkrankungen aus. AIDS hat längst Tausende verschiedenster Leidensgeschichten geschrieben. Und doch hat die aufgrund der Immunschwäche ausbrechende Sekundärinfektion nicht immer einfach den nächst daherfliegenden Bazillen Tribut zu zollen. Warum löst die allgemeine Im munschwäche AIDS, unabhängig davon, ob jemand schwarz, weiß, drogenabhängig oder Vegetarier, Leistungssportler oder Stubenhocker, homo– oder heterosexuell ist, bei dem einen diese und bei dem anderen jene letztlich doch nicht völlig unspezifische Erkrankung aus? Warum ist die Zeit zwischen Ansteckung und Krankheitsausbruch (Inkubation) nicht einfach nur eine Frage der Ernährung oder psychischen Disposition? Warum stirbt ein Patient nach vier Monaten, überlebt ein anderer definitiv ausgebrochenes AIDS bereits im dritten Jahr? Höhere Hürden bei der Impfstoffentwicklung Eine mögliche Erklärung dafür könnten neben der Menge und Häufigkeit der Virusaufnahme die Ergebnisse der Untersuchungen des Ärzteteams um die Frankfurter Retrovirologin, Frau Dr. Rübsamen–Waigmann vom dem „Paul–Ehrlich Institut“ ausgegliederten Chemotherapeutischen Forschungslabor „Georg– Speyer–Haus“ liefern. Für die kleine Laborequipe haben sich die „Killer“ längst zu einem unübersehbaren Familienclan von vermutlich Hunderten Verwandten entwickelt, die in einem Patienten innerhalb von drei Monaten bereits wieder mutieren. Dem Team sind bei bescheidenen Forschungsmitteln inzwischen allein aus den ihm zur Verfügung stehenden Proben fast 50 verschiedene Virusstämme mit sehr unterschiedlichen Wachstumseigenschaften unters Eletronenmikroskop gekommen. Bereits bei einem einzigen Patienten wurden vier verschiedene Formen identifiziert, die sich nicht nur an der Oberfläche, den Hüllen–Proteinen, unterschieden. Alle Abwandlungen zeigten auch Differenzen in der Genom–Organisation, insbesondere in dem bisher für konstant gehaltenen Bereich des Erregers (gag und pol). Und sie erwiesen sich als unterschiedlich aggressiv. Während ein Teil der nach einem neuentwickelten Verfahren herangezüchteten Isolate die Zellen kaum anrührte, zerstörten andere ganze Zellkulturen in wenigen Stunden. Eine Entdeckung zu der die Kollegen von Frankfurt bis Havard Frau Dr. Rübsamen–Waigmann gratulieren konnten. Von nun an müssen sie die Erfolgslatte für die Entwicklung eines Impfstoffs höher hängen, der die verschiedensten Verkleidungen der gesamten Mafia erkennen muß. Eine verzögerte Antwort auf die letzte Herbstkreation ist sinnlos, wenn das Virus schon wieder die nächste Off–Sommer–Mode trägt. Ganz so tragisch will das Prof. Habermehl vom Mikrobiologischen Forschungszentrum der Freien Universität in Berlin nicht sehen: „Es gibt immer noch konstante Teile.“ Habermehl verweist auf „großangelegte internationale Untersuchungen“. Für ihn „sieht das da besser aus, als man dachte“. Forschungsexpeditionen postkolonialer Reagenzglasschüttler durch die Blutproben des schwarzen Kontinents setzen den Frankfurter Exkursionen durch hessische Patientenseren noch eins drauf. Von Wissenschaftlern des Pariser Pasteur–Instituts in Zentralafrika gefundene HIV–Viren unterscheiden sich von europäischen oder US–amerikanischen Virusstämmen wie der Apfel von der Apfelsine. Das heißt, in der praktischen Konsequenz, in Afrika existieren Viren, die mit den derzeit kommerziell hergestellten europäischen und amerikanischen Anti–Körper–Tests nicht mehr auszumachen sind. Daß ein ähnliches Problem auch innerhalb Europas entstehen könnte, will Frau Rübsamen– Weigmann nicht mehr ausschließen. Bereits jetzt stellten sich bei den Tests erhebliche Differenzen in der Anti–Körper–Reaktion heraus. Wer probiert den Cocktail? Der Impfstoff der Zukunft muß ein Supercocktail sein. Und wer ihn zuerst probieren soll, ist bis heute unklar. Denn es fehlt nicht nur wegen der weltweiten Schimpansenknappheit an geeigneten Tierversuchsmodellen. Auch Hoffnungen auf eine Impfstoffentwicklung mit Versuchen an der über nacht berühmt gewordenen Grünen Meerkatze, einer Affenart, die sich gegen ein ähnliches, aber eben anderes Retrovirus immunisiert hat, haben sich im Paul– Ehrlich Institut weitgehend zerschlagen. Die deutlich differierenden biologischen Eigenschaften könnten der Grund dafür sein, daß die Attentäter völlig unterschiedliche Ziele angreifen. „Die Entstehung von mittlerweile derart unterschiedlichen Erkrankungen“, so die hessische Wissenschaftlerin, „wäre allein mit der Zerstörung der T4–Lymphozyten durch HIV sicher nicht zu erklären.“ Längst finden die Pathologen Erreger nicht mehr nur im Blut. HIV–Viren verteilen sich auf Milz, Lunge, Knochenmark und vor allem auf die verschiedensten Teile des Gehirns. Daß die mutierenden HIV–Viren nicht nur die das Immunsystem alarmierenden T–4 Helferzellen im Blut befallen, sondern auch die in den Organen die Fremdkörper, Bakterien und Viren fressenden Makrophagen, die auf ihrer Wanderung die Zellen ins Liquor (Gehirnflüssigkeit) transportieren, stellt die Forscher bei der Entwicklung eines Medikaments zur Behandlung AIDS–Kranker vor ein weiteres Problem: Die Überwindung der Blut–Gehirnschranke. Es gibt kaum Medikamente, die gleichzeitig vom Blut und Liquor aufgenommen werden können. Alte Hüte neu Köpfe Das Aufpolieren „alter Hüte“, wie Prof. Pohle vom Berliner Virchow–Krankenhaus z.B. das einst bis zur Filmreife erfolgreiche Malariamittel der Wilhelminischen Kolonialära „Germanin“ (wissenschaftlich: Sumarin) nennt, brachte nicht den erwarteten Erfolg. Wegen der fatalen Nebenwirkungen wurden Sumarinbehandlungen von der Ärztin in der Abteilung Innere Medizin in Frankfurt, Frau Prof. Helm, bereits wieder abgebrochen. Im Kommen ist nun Azidothymidin (AZT). Das als Krebsmedizin wirkungslose Mittel hat tatsächlich die Symptome totkranker von Lungenentzündung befallener AIDS–Patienten zurückgedrängt. Doch das erste Experiment ließ bereits alle die aus, die am Karposi–Sarkom und Gehirnschädigung erkrankt sind sowie auch von AIDS befallene Kinder. AZT ist vor allem Heilmittel gegen das AIDS–Lungensyndrom. Gewonnen wird es aus nur begrenzt vorhandenem Heringssperma. Synthetisch schwer herstellbar. „Die Formel müssen Sie sich mal ansehen“, so ein Experte, „da würden Sie staunen.“ Und AZT ist kein leichtes Tröpfchen. Wie Sumarin und andere bereits bei AIDS erprobte Zellgifte blockiert es die Reverse Transpriptase (Umwandlung der DNS in RNS), mit der das Virus den Zellen vorgaukelt, es sei ihr eigen Fleisch und Blut, um sich dann als Kuckuck im fremden Nest durchfüttern zu lassen. Innere Blutungen aber sind nur eine Nebenwirkung dieser Blocker. Jetzt wird das Medikament auch in der Bundesrepu blik im Labor und am Patienten erprobt. Ob es in der Lage ist, die Blut–Gehirnschranke zu überwinden, ist noch nicht erforscht. „Große Hoffnungen“ aber knüpft auch der Virologe Habermehl nicht daran, da damit das Virus ja nicht völlig vernichtet werde: „Ein gewisser Effekt, ja. Aber ein Durchbruch gewiß nicht.“ Traurige Nachricht von den Krankenstationen Nicht nur Laborbeobachtungen, sondern auch die Studien am Krankenbett zeichnen düstere Perspektiven. Eine „bemerkenswert schlechte Prognose“ der HIV–Infizierten, stellte in einer gemeinsam mit ihren Frankfurter Kollegen des Zentrums der Inneren Medizin in diesem Sommer veröffentlichten klinischen Betrachtung Frau Prof. Helm. Ihr Ärzteteam, das neben dem Stab von Prof. Pohle in Berlin als einziges eine größere Patientenzahl über lange Zeit behandelte, rechnet damit, daß von den symptomlosen HIV–Trägern bei der Hälfte nach spätestens fünf Jahren und bei 75 Prozent nach spätestens sieben Jahren das Vollbild von AIDS entwickelt werde. Mit ihrer in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift veröffentlichten Studie zerschlagen die Ärzte die noch in allen AIDS– Merkheftchen verbreitete Illusion von Infizierten und Medizinern auf einen chancenreichen Ausgang. 15 bis 20 Prozent der Virusträger, hieß es bisher, würden an AIDS erkranken. In einer offenen Ambulanzgruppe wurden in Frankfurt 543 Patienten aus sogenannten Risikogruppen untersucht. Ein Drittel konnte mit dem einzig erfreulichen Ergebnis glücklich wieder nach Hause gehen: Der Bluttest war negativ. Von 377 HIV–Positiven waren am Ende einer Beobachtungsphase, die sich je nach Patient über einen Zeitraum zwischen drei Monaten und drei Jahren erstreckte, nur noch 30 vollständig gesund. (10 Prozent der Freiwilligen, die bereit waren, an der Untersuchung teilzunehmen, die für viele ambulant begannen und auf der Station endeten, waren im Laufe der Zeit abgesprungen.) Mehr als angenommen erkrankt Das Blut der untersuchten Personen war wohlweislich seit 1982 eingefroren worden und konnte mit dem ab 1984 zur Verfügung stehenden Antikörpertest nachträglich bestimmt werden. Die einzelnen Krankheitsschicksale fielen teilweise sehr unterschiedlich aus. Bei einigen lagen zwischen Beischlaf und Totenbett nur zwei Jahre. Ein anderer Patient lebte mit voll ausgebrochenem letzten Krankheitsstadium bereits mehr als zweieinviertel Jahre. Doch als Fazit bleibt: Je länger jemand infiziert ist, desto schlechter steht es mit seinem Gesundheitszustand. Dabei beträgt die unterschiedlich schnell in einzelne Krankheitsstadien übergehende Verschlechterung im Jahresmittel fast neun Prozent. Dieser traurigen Bilanz stehen nur sieben Patienten gegenüber, deren Zustand sich während des Beobachtungszeitraums gebessert hat. Doch da trauen die Ärzte ihrer eigenen Heilkunde nicht und unterstellen eine möglich Fehleinschätzung bei der Erstuntersuchung. Einziger Lichtblick bleiben zwei Untersuchte, bei denen auch der Antikörpertest nicht mehr positiv anschlug. Bei einem blieb es nur ein kurzes Aufatmen. Aus seinem Blut konnten wieder Viren angezüchtet werden. Er ist weiterhin Krankheitsüberträger. Nur einer von 307 scheint also wirklich über den Berg zu sein. Eine ursprünglich falsch positive Antikörpertestreaktion bei diesem Patienten will Frau Prof. Helm heute auf Nachfrage allerdings nicht ausschließen. „Das Ergebnis von Frau Prof. Helm kann man nicht auf alle Patienten übertragen“, wehrt sich Prof. Habermehl gegen eine Verallgemeinerung einer derartig negativen Prognose. Er vermutet die Ursache für das schlechte Ergebnis der Studie in der zu speziellen Gruppe der Frankfurter Patienten. Die Zahl der Untersuchten sei einfach zu klein. „Das muß man erst international kontrollieren.“ Doch auch aus den USA werden seit einiger Zeit höhere Erkrankungsraten gemeldet. Aber noch liegen Medizin und Forschung nicht ganz schlecht im Rennen. Und vorsichtige Optimisten wie Habermehl haben bereits einige Trümpfe im Blatt gehabt. Die überraschend schnelle Entdeckung des Erregers und die flugse Aufschlüsselung seiner Gen– Struktur läßt manchen Wissenschaftler schon strahlende Augen bekommen. Viele Möglichkeiten tun sich den Forschern noch auf. Doch schnelle Erfolge will keiner mehr verheißen. Virusentdecker Montaignier, der versprach, in 15 Jahren sei AIDS vergessen, gilt heute unter seinen Kollegen als größte Frohnatur der Branche. Die Patientennamen sind von der Redaktion frei erfunden. HIV ist die jetzt international gebräuchliche Benennung des AIDS auslösenden Virus. Sie soll den Streit um die Nomenklatura der konkurrierenden französischen und US–amerikanischen Entdecker des Virus, Montaignier, der es LAV, und Gallo, der es HTLV–III nannte, beenden.