Süssmuth setzt auf AIDS–Selbsthilfe

■ 800 AIDS–Helfer, Ärzte, Behördenvertreter, Sozialarbeiter und Politiker diskutieren zwei Tage lang über Wege und Probleme der AIDS–Bekämpfung / Bürgerliche Selbstzufriedenheit steht dem Selbstschutz entgegen

Aus Berlin Kuno Kruse

„Die freiwillige Kooperation zwischen Betroffenen und den Gesundheitsbehörden in Takt zu halten“, nannte Bundesgesundheitsministerin Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth (CDU) zur Eröffnung der Tagung AIDS geht alle an in Berlin als eine der vorrangigsten Aufgaben ihres Ministeriums, „und ich hoffe, daß diese Haltung von allen Ländern unterstützt wird.“ Noch einmal lehnt sie, wie bereits der Gastgeber des zweitägigen Kongresses, der Berliner Sozialsenator Ulf Fink (CDU), eine Meldepflicht für AIDS–Erkrankungen grundsätzlich ab. Erkrankte kämen als Infektionsquelle kaum noch in Frage, und aufgrund der langen Inkubationszeit könne eine Meldepflicht auch nicht zur Aufklärung von Infektionsketten beitragen. Das anoyme AIDS–Register am Bundesgesundheitsamt liefere genügend zuverlässige Zahlen über die Epidimiologie. Hinter dem Ruf nach Schutz entdecke sie in den bei ihr eingehenden Briefen von Meldepflichtforderern häufig das Motiv der Bestrafung. Wichtig sei es, so die Ministerin, Sexualität sachbezogen und menschenadäquat auch öffentlich zu problematisieren. Tiefsitzende Ängste in diesem Bereich könnten bestehende Tabus verstärken. „Wir sind überaus erleichtert, daß hier mit dieser Deutlichkeit und Courage offiziell Position bezogen wurde“, bedankte sich Mitveranstalter Gerd Paul von der Deutschen AIDS–Hilfe für die klaren Worte Rita Süssmuths in der Hoffnung, „es möge Bestand haben.“ Bisher habe das zivilisatorische Korsett widerstanden, Sündenböcke zu bilden. Bis heute sei die Selbsthilfe überwiegend von Schwulen getragen worden - „sie haben den Kopf nicht in den Sand gesteckt“ -, er fordere auch „heterosexuelle Männer“ zur Mithilfe auf, die „mit offenen Armen aufgenommen“ würden. Noch einmal wandte er sich gegen den aus der Sicht der AIDS–Hilfe kontrapro duktiven gegenwärtigen Umgang mit dem Antikörpertest, der ein „individuelles, nicht interpretierbares Ergebnis“, irgendwann vielleicht zu erkranken, liefere. Es folgten auch keine Verhaltenskonsequenzen, denn: „Safer–Sex gilt für alle.“ Als außerordentlich schwierig, so Sozialsenator Fink, hätten sich Aufklärungsaktionen im Umfeld der Beschaffungsprostitution erwiesen. Der Leidensdruck der Fixer beeinträchtige ihre Möglichkeiten zu verantwortungsbewußtem Handeln. „Andererseits läßt sich die Gefährdung genausowenig auf die Strichjungen oder Prostituierten abschieben, denn sie sind gegenüber den Freiern in der weitaus schwächeren Position“, verwies Fink darauf, daß offenbar nur zehn bis 20 Prozent der Freier bereit seien, Condome zu benutzen. „Bürgerliche Selbstzufriedenheit,“ darauf hatte der Senator bereits hingewiesen, „steht dem Selbstschutz entgegen.“ Daß Plakataufrufe für Condome nicht ausreichten und sich die Mitarbeiter in Selbsthilfegruppen und der im Bereich der AIDS–Medizin und psychosozialen Betreuung Beschäftigten mehr Unterstützng durch die 1933 zerschlagene und bis heute vernachlässigte Sexualforschung erhofften, wurde zentraler Gegenstand der folgenden Diskussion des sechshunderköpfigen Auditoriums. Auch Klagen der Ministerin, daß es schwierig sei, um die für die AIDS–Bekämpfung notwendigen Gelder zu ringen, wollte ein Hamburger Arzt nicht gelten lassen. „Wenn in der Rüstung Milliarden locker gemacht werden, wird auch nicht gefragt, ob die Bevölkerung sensibilisiert ist.“ Man habe einfach nicht den Mut, so ein britischer Journalist, zu sagen: „Es kann auch ihrer Tochter oder ihrem Sohn passieren.“ Daß AIDS längst kein Problem von Randgruppen mehr ist, machte Dr. Uwe Petersen vom Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Kopenhagen an Zahlen deutlich: 150.–250.000 Menschen, so schätzt die WHO, sind bereits in Europa infiziert.