Brasilien: Opfer wie Täter sind jung, arm und schwarz

90 Prozent der jährlich 45.000 Morde in Brasilien werden mit Schusswaffen verübt. Schätzungen zufolge gibt es in dem südamerikanischen Land 18 Millionen Kleinwaffen

PORTO ALEGRE taz ■ 6.133 Tote soll die heiße Phase des Irakkrieges nach US-Angaben gefordert haben. So viele Menschen sterben im „urbanen Krieg“ der Industriemetropole São Paulo alle sechs Monate. Mit 45.000 Morden im Jahr führt Brasilien die weltweiten Gewaltstatistiken an. Selbst wenn man diese Zahl in Relation zur Gesamtbevölkerung setzt, ist die Situation nur in Kolumbien und El Salvador dramatischer.

90 Prozent aller Morde werden mit Schusswaffen verübt, und davon gibt es genug. Seriöse Schätzungen gehen von 18 Millionen Kleinwaffen in Brasilien aus, von denen nur 7 Millionen registriert sind. Die meisten stammen aus einheimischer Produktion, werden ganz legal exportiert und über Paraguay wieder ins Land geschmuggelt. Einen 38er-Revolver kann man für 30 Euro kaufen.

Der Jahresumsatz der brasilianischen Kleinwaffenfabriken von umgerechnet 100 Millionen Euro entspricht fast den Folgekosten, die dem Land täglich durch die durch sie ausgeübte Gewalt entstehen, hat der Forscher José Vicente da Silva Filho vom Braudel-Institut in São Paulo ausgerechnet. Und nur wenig darüber liegt der Jahresetat des Nationalen Fonds für öffentliche Sicherheit, mit dem die Regierung Lula gegen das organisierte Verbrechen vorgehen will. Immerhin soll illegaler Waffenbesitz künftig mit empfindlichen Gefängnisstrafen geahndet werden – bislang reicht die Zahlung einer Kaution, um auf freien Fuß zu kommen. Doch dem entprechenden Gesetzesentwurf im Kongress stellt sich die Waffenlobby entgegen.

Für Giovanni Quaglia, den Chef der hiesigen UNO-Vertretung gegen Drogen und das Verbrechen (UNODC), gehen Waffen- und Drogenhandel Hand in Hand: Viele Geschäfte würden bargeldlos nach dem Schema „eine Maschinenpistole gegen 20 Kilo Kokain“ abgewickelt. Zudem entwickelt sich Brasilien, seit je eine wichtige Zwischenstation auf der Kokainroute von Kolumbien nach Europa, immer mehr zum lukrativen Absatzmarkt für Drogen.

Mit einem extremen sozialen Gefälle und der andauernden Wirtschaftskrise, der Korruption unterbezahlter Polizisten und der weitgehenden Straflosigkeit im Justizsystem herrschen in den brasilianischen Metropolen geradezu ideale Voraussetzungen für diese Art der Kriminalität. In Rio wird gerade mal jeder hundertste Mordfall aufgeklärt.

Welche Anreize haben die Jugendlichen aus Rios Favelas, dem Trommelfeuer der Werbung und den materiellen Anreizen der Drogengangs zu widerstehen? Einsteigern winken für Aufpasserdienste 50 Euro in der Woche – mehr als doppelt so viel wie der amtliche Mindestlohn. „Die Anerkennung und das Geld, das Jugendliche vom Drogenhandel bekommen, müssen wir ihnen auch bieten, aber mit positivem Vorzeichen“, sagt Lulas Staatssekretär für Sicherheit, Luiz Eduardo Soares. Auch wenn Mord und Totschlag nach geringfügigen Anlässen zunehmen: In Brasilien bleibt die urbane Gewalt äußerst selektiv. Sie konzentriert sich auf die Armenviertel der Metropolen. Opfer wie Täter sind meist jung, arm und schwarz. GERHARD DILGER