Migration ist kein Allheilmittel

aus Berlin SABINE HERRE
und EBERHARD SEIDEL

Hans-Olaf Henkel ist bester Laune. Zwar war der ehemalige BDI-Chef schon immer für die ein oder andere Provokation gut, doch nun, so ganz ohne Amt und Würden, läuft Henkel zu neuer Form auf. Auf 77 Jahre müsste man das Rentenalter im Jahre 2050 anheben, um unser Rentensystem wenigstens einigermaßen zu sichern. Eine andere Henkel-Rechnung: Um das Durchschnittsalter in Deutschland zu erhalten, bräuchte man pro Jahr 3,4 Millionen Zuwanderer – 2050 gäbe es dann 290 Millionen Deutsche. Hans-Olaf Henkel, einer der Erfinder der Green Card, fühlt sich bestätigt. Nun gebe selbst die CSU zu, was inzwischen ein „alter Hut“ sei: Deutschland ist ein Einwanderungsland.

Green Card gold

Nur eines hemmt Henkel an diesem Tag, an dem er bei der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute“ über Migration in Europa sprechen soll. Als Mitglied der Zuwanderungskommission der Bundesregierung darf er hier keine offiziellen Positionen vortragen, denn deren Vorsitzende Rita Süssmuth wird die Ergebnisse der einjährigen Arbeit erst im Juli präsentieren. So teilt Henkel den 50 versammelten Wissenschaftlern eben seine „persönlichen Überlegungen“ mit. So etwas wie eine Green Card gold – ohne die Beschränkungen wie Dauer und Einkommen oder Ehepartnerarbeitsverbot – möchte er gern einführen. Deutschland müsse sich diejenigen aussuchen, die es brauche. Dies gelte, so der zweite Teil des Konzepts, auch für abgelehnte Asylbewerber: Wenn der Arbeitsmarkt sie benötige, müssten sie in Deutschland bleiben können. Drittens plädiert Henkel dafür, sich um mehr ausländische Studenten zu bewerben. Auch sie sollten nach dem Examen die Möglichkeit haben, eine Arbeit in Deutschland aufzunehmen.

Genau hier ist Henkel dann bei einem seiner Lieblingsthemen – dem Bildungssystem, das es ebenso zu reformieren gelte wie das Sozialsystem. Überhaupt wird auf dieser Tagung deutlich, dass Zuwanderung den Politikern zurzeit zwar als Allheilmittel des demographischen Problems gilt, dass sie dieses Problem aber nur ansatzweise löst. Schließlich gibt es weltweit einen Wettbewerb um hochqualifizierte Arbeitskräfte, allein die USA habe einen Fachkräftemangel von fast einer halben Million.

Doch damit nicht genug: In Deutschland können inzwischen auch immer mehr Arbeitsstellen für gering Qualifizierte – in Gastronomie und Handel etwa – nicht besetzt werden. Ulrich Walwei vom Forschungsinstitut der BfA: „1997 gaben 11 Prozent der Betriebe an, Schwierigkeiten bei der Suche nach Arbeitskräften zu haben, 2000 waren es bereits 21 Prozent. Die überwiegende Mehrheit kam aus dem Dienstleistungssektor.“ Auch Walwei warnt davor, Einwanderung nicht generell als Ausgleich für Versäumnisse in der Bildungspolitik oder für das mangelnde Funktionieren des Arbeitsmarkts zu sehen. Sein Rezept: Mit hohen Löhnen diejenigen, die nicht die nötige Qualifikation für einen Job haben, zu eben dieser Qualifikation zu annimieren. Durch diesen „Aufstieg“ würden dann „unten“ Arbeitsplätze frei, für die sich dann Arbeitslose bewerben könnten.

Wenn jedoch selbst Zuwanderung den deutschen Wohlstand nicht sichert, dann mutet auch der derzeitige Zahlenkampf über die Höhe der Einwanderung nach der EU-Osterweiterung ziemlich anachronistisch an. So hat die Welt am Sonntag am letzten Wochenende unter Berufung auf Studien des Münchener ifo-Instituts und des Bonner „Instituts für die Zukunft der Arbeit“ (IZA) von einer erwarteten Einwanderung von 4 bis 6 Millionen aus den osteuropäischen Beitrittsländern in den kommenden 15 Jahren berichtet und damit mächtige Aufregung über eine neue „Völkerwanderung“ hervorgerufen. Das Berliner DIW hat dagegen stets eine Einwanderung von 2,2 bis 2,7 Millionen in den nächsten 30 Jahren prognostiziert.

Bei der Berliner Tagung der wirtschaftswissenschaftlichen Institute waren nun die Verfasser aller drei Studien anwesend, so dass es zum offenen Streit kam. Dabei ging es nicht nur darum, dass die Welt am Sonntag eine bereits zwei Jahre alte Studie des IZA als neu dargestellt und dann auch noch falsche Zahlen zitiert hat. Was die Wissenschaftler so richtig in Rage brachte, war die Frage, ob die Besonderheiten der Herkunftsländer – wie Sprache, geographische Lage – in die Berechnung der Zuwanderung einfließen: Sollen diese so geannten fixen Effekte in der entsprechenden mathematischen Formel berücksichtigt werden oder nicht? Für Ersteres ist das DIW, für das Zweite tritt das ifo ein. Die Folge der scheinbar nur wissenschaftlichen Kontroverse: Das DIW errechnete ein Migrationspotential von 2,4 Prozent der Beitrittsländer, das ifo kam auf mehr als dreimal so viel, auf 8,6 Prozent. Doch egal, ob 2 oder 4 Millionen, die Bundesrepublik braucht alle, denn seit 1998 ist der Wanderungssaldo negativ: Den jährlich rund 600.000 Zuzügen von Ausländern stehen mehr als 600.000 Wegzüge gegenüber. Vor diesem Hintergrund konnte Hans-Olaf Henkel dann auch eines überhaupt nicht verstehen: Dass Bundeskanzler Schröder erst eine Zuwanderungskommission einberuft und sich dann für eine siebenjährige Übergangsfrist bei der Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus dem Osten ausspricht.

Aber nicht nur über die Einwanderer der Zukunft wird in Deutschland derzeit debattiert. Vor allem die vermeintlich mangelnden Anpassungsleistungen der bereits hier lebenden Ausländer beschäftigt die Öffentlichkeit bei Diskussionen wie der um die „Leitkultur“.

Die Volkswirtschaftler haben einiges zur Klärung beizutragen. Ihr Fazit: Nicht der Grad der sozialen und kulturellen Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft ist für die ökonomische Integration entscheidend. Sie ist in erster Linie abhängig von den Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen. Und da hat sich bei den drei größten Einwanderergruppen, den Türken, Italienern und den Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, seit 20 Jahren nur wenig getan. Die Folgen der fehlenden staatlichen Integrations- und Qualifizierungsangebote für die Einwanderer aus den klassischen Anwerbeländern sind gravierend. So betrug die Arbeitslosenquote von Deutschen und Ausländern in Westdeutschland 1980 jeweils knapp fünf Prozent, derzeit sind es neun beziehungsweise über 20 Prozent. Auch die Einkommensunterschiede zwischen Deutschen und Nichtdeutschen klaffen seit 1980 immer weiter auseinander.

Das Milliardendesaster

Volkswirtschaftlich sind die migrationspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit ein Milliardendesaster. Aufgrund der Bildungsrückstände und der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit tragen die Ausländer, die neun Prozent der Bevölkerung stellen, nur mit fünf Prozent zum Bruttosozialprodukt bei. Nach Berechnungen von Hans Dietrich von Loeffelholz vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) könnte das jährliche Bruttoinlandsprodukt 40 bis 80 Milliarden Mark höher sein, hätten die Immigranten ein den Deutschen vergleichbares Bildungs- und Ausbildunsgprofil.

Investitionen in eine auf die Situation der bereits im Land lebenden Migranten zugeschnittene Bildungs- und Ausbildungsoffensive wäre volkswirtschaftlich sinnvoll. Bei Nutzung der vorhandenen Ressourcen und den damit verbundenen Produktivitäts- und Wachstumszuwächsen würden dem Fiskus nach Berechnungen des RWIs jährlich 20 bis 40 Milliarden Mark mehr an Steuern zufließen. Erkenntnisse, die noch keinen Eingang in die Politik gefunden haben. So stellt der Bund derzeit lediglich 34 Millionen Mark für die Sprachförderung von Einwanderern aus den ehemaligen Anwerbeländern zur Verfügung.

Thema: Wie wollen wir miteinander auskommen? Multikulturelle Gesellschaft. So., 13 Uhr