Kleine Morde unter Eidgenossen

Zwölf lange Jahre war der „Tatort“ ein Dreiländerprodukt. Doch Ende 2001 steigen die Schweizer aus: Einmal mehr haben sie Angst vor dem Verlust ihrer nationalen Identität

„Hab keinen Bock auf diese Kinderkacke!“ – wenn Hauptkommissar Till Ritter im SFB-„Tatort“ das Wort ergreift, dann zappen Herr und Frau Schweizer schockiert zur gemütlicheren Sonntagabend-Soap. Dieses Gerücht kursiert jedenfalls in der Schweizer Fernsehbranche: An den deutschen Produktionen, heißt es da, klebe nicht nur Blut, sondern auch viel zu viel Gossensprache, Sex and Crime. Doch was soll ein Krimi anderes beinhalten, als Crime – und kommt man im Zeitalter der Privatsender überhaupt ohne Sex aus?

Hier zu Lande offenbar schon: Die zwölf eidgenössischen Tatortproduktionen, die seit 1989 in der Hauptstadt Bern gedreht wurden, setzen nicht auf Action-geladene Verfolgungsjagden, sondern auf intellektuelle und psychologische Schwerpunkte. Auch wenn diese etwas andere Art von Krimi bei den deutschen Sendern auf keinerlei Misstöne zu stoßen schien, steigen die Schweizer zum Jahresende nun aus der Gemeinschaftsproduktion aus. Nur, wieso erfolgt dieser Rückzug gerade jetzt, wo die ARD doch schon seit Jahren den Wunsch vorbringt, die Schweizer sollten nicht etwa endlich zum deutschen „Tatort“-Strickmuster aufschließen, sondern ganz im Gegenteil die Zahl der Folgen auf zwei pro Jahr aufstocken?

Der Direktionsentscheid des öffentlich-rechtlichen Schweizer Fernsehens SF DRS stützt sich, laut SF-DRS-„Tatort“-Redakteurin Susann Wach, auf den leichten Rückgang der heiß begehrten Quoten und die hohen Produktionskosten.

László I. Kish, aus dem Schweizer „Tatort“ als Kommissar Philip von Burg bekannt, nennt diese Gründe „falsch und vorgeschoben“: SF-DRS-Direktor Schellenberg wertet den schmeichelhaften Wunsch der ARD, auf zwei Folgen pro Jahr aufzustocken, als Erpressung. Zudem grassiert auch im Schweizer Fernsehen die lächerliche Angst vor dem Verlust der nationalen Identität. Da kauft Schellenberg für das Geld lieber fünf Schwarzweiß-Western.

Korsett sprengen

Tatsächlich wollen die Schweizer nun auf Krimidramen umstellen: Friedrich Glausers Romane sollen erneut verfilmt, „Studers erster Fall“ umgesetzt werden. Und „Spital in Angst“ verspricht endlich die bis dahin nicht vorhandene Action. Wach verweist auf das enge Korsett, das mit den „Tatort“-Vorgaben für das SF DRS bestanden hätte – und das man nun bei den neuen Produktionen sprengen könne.

Die sinkenden Schweizer Quoten sind laut Wach durch den verschobenen, späteren Sendebeginn (20.30 Uhr) begründet. Dazu kommen die beschränkten finanziellen Mittel, die für einen Schweizer Tatort nie denselben Aufwand ermöglicht hätten, wie er bei den deutschen Produktionen selbstverständlich sei.

Kish dagegen sieht die Ursache des Quotenrückgangs bei den Werbeunterbrechungen: Das Schweizer Publikum schaut sich den „Tatort“ eben lieber werbefrei bei der ARD an, deren Signal überall in der Schweiz empfangen werden kann. Noch schwerwiegender aber sei die fehlende Identifikationsmöglichkeit, sagt Kish: Nur eine Sendung pro Jahr könne keinen Wiedererkennungseffekt schaffen. Zudem hing beim SF-DRS-„Tatort“-Team der Haussegen schief: „Die Redaktion hat aus Fehlern nicht gelernt, keine Konsequenzen gezogen und war team- und konfliktunfähig. Bei dieser lieblosen Arbeit konnte keine Verbesserung stattfinden“, moniert der letzte Schweizer Kommissar. Dass der SF DRS den „Tatort“ als gescheitert hinstellt, mag Kish trotzdem nicht gelten lassen. Als Trost bleibt ihm der deutsche TV-Markt, der genügend Arbeit und die Professionalität jungerer Regisseure mit sich bringe.

Auch „Tatort“-Redakteurin Wach erkennt die fehlende Innovation, ist aber durchaus stolz auf zwölf Schweizer „Tatorte“, die sich im Laufe der Jahre zu schnelllebigen und rasanten Filmen entwickelt hätten.

Mit dem Tatort „Time out“ schließt Ende 2001 das SF DRS ein Kapitel eidgenössischer Krimigeschichte. Schweizer, die sich von Sex and Crime nicht abschrecken lassen, müssen ab 2002 auf die ARD umschalten.

KARIN WENGER