Überleben in der Zone

15 Jahre nach Tschernobyl zeigt der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter das Leben in einer Geisterstadt im Sperrgebiet: Die preisgekrönte Doku „Pripyat“, BR, Samstag, 22.45 Uhr

von GITTA DÜPERTHAL

Eine feine Mahlzeit wolle er dem Filmemacher servieren, sagt ein alter Mann in die Kamera: mit Pilzen. Doch dann fällt ihm ein, dass Pilze arg verstrahlt sind. Nun, wenn es nur wenige sind, könne man sie vielleicht doch essen. Der Mann sitzt mit seiner Frau in einer ärmlichen Hütte, mitten in einer abgestorbenen Landschaft. Laut Forschungsresultaten amerikanischer Wissenschaftlern dürfte es ihn nicht mehr geben: Sieben Jahre könne man in „der Zone“ überleben. „Wir leben hier bereits seit zehn Jahren“, meint er. „Zwölf“, verbessert seine Frau liebevoll.

„Die Zone“, das ist Pripyat: Die Stadt der Arbeiter des Atomkraftwerks von Tschernobyl, in der vor dem Unfall 48.000 Menschen lebten. „Die Zone“ ist auch streng bewachtes und noch immer nicht vollständig evakuiertes Sperrgebiet, nach dessen Besuch man die Schuhe wechseln sollte, weil man sonst verseuchte Erde in umliegende Gebiete verteilen könnte.

Von der Stadt, die mitten in dem 30-Kilometer-Gürtel um das Kraftwerk liegt, ist heute so gut wie nichts mehr übrig. Nikolaus Geyrhalter streift in seinem Dokumentarfilm „Pripyat“ mit seiner Kamera über zerstörte Landschaften, bröckelnde Plattenbauten. Nur eines scheint hier zu funktionieren: Block 3 des Kernkraftwerks ist wieder in Gang gesetzt. Auch hier filmt Geyrhalter.

Der Ingenieur spricht in der Schalterhalle über „die große Verantwortung“, die er habe. Angst? Nein, schließlich sei er doch hier, um die Sicherheit zu garantieren, verlautbart der Mann. Dabei macht er ein Gesicht, als glaube er selbst nicht, was er sagt. In solchen kleinen Szenen aus dem Alltags der Leute, die in Pripyat leben, wird Günther Anders’ These deutlich: „Es ist mehr herstellbar, als vorstellbar.“ Doch Nikolaus Geyrhalter ist kein Filmemacher, der sich um Theorien schert.

Der österreichische Regisseur hat eine besondere Handschrift, wenn er in seinen Dokumentarfilmen über die Zerstörung menschlichen Lebens berichtet. Er schafft Raum und Zeit für die Menschen, ihre Gedanken, Ängste und Träume zu schildern. Und wenn der Bayerische Rundfunk anlässlich des 15. Jahrestages der Katastrophe diesen Film zeigt, so steht dies einem öffentlich-rechtlichem Rundfunksender gut zu Gesicht. Denn „Pripyat“ ist alles andere als ein unpolitischer Film, der nur durch Ästhetik und narrativen Erzählstil glänzt.

Wie schon Geyrhalters Film über die Leidtragenden des Balkankriegs in Bosnien „Das Jahr nach Dayton“, so ist auch dieser Film kein kämpferisches und vordergründig engagiertes Werk. Dennoch dürfe er – wie der Regisseur auch selbst sagt – als „ein leiser Beitrag zur laufenden Atomenergiedebatte verstanden werden“. Dieser Filmemacher lässt die Leute für sich sprechen, bleibt dabei allerdings so beharrlich, bis irgendwann – wenn nicht die Worte – so doch das Gesicht oder die Hände ihre Gedanken verraten.

Selbst der Ingenieur aus Tschernobyl mimt am Ende nicht mehr den Saubermann, der alles im Griff hat. Den Lohn seiner Arbeit habe er noch nicht erhalten, seine Familie könne er nicht ernähren. Er verdiene zuwenig, gesteht dieser eben noch so übermächtig erscheinende Mann ein. Hatte er nicht eben noch „große Verantwortung vor seiner Familie, seinem Land und der Welt“ beschworen? Das ist eben Geyrhalter. Er wartet, bleibt im Gespräch und hört zu. Eine große Kunst.

So wenig ihn bei seinem Film über Bosnien die ethnische Zugehörigkeit der Menschen dort interessiert hat, so interessiert ihn beim Dokumentarfilm über Tschernobyl nicht, ob es nun ein Soldat an der Grenze, ein Ingenieur im Kraftwerk oder ein alter Bauer ist, der da mit ihm spricht.

Nur eines ist für den Autor von Interesse. Wie schätzen diese Menschen selbst ihre persönliche Situation ein? „Das Private ist politisch“ – dieses Motto setzt Geyrhalter glaubwürdig in seinen Filmen um.