Gutes tun

200 Zeitschriftenabos gegen einen Therapieplatz: Eine Kurzgeschichte

von JAN BRANDT

Ich hatte mich krankschreiben lassen. Ich brauchte eine Pause und wollte keinen Urlaub nehmen. Einmal im Jahr mache ich das. Ich fühle mich nicht gut dabei. Aber ich würde mich auch nicht gut fühlen, wenn ich es nicht täte. Solche Tage beginnen mit einem ausgiebigen Frühstück und enden meist im Bett vor dem Fernseher.

Es war gegen Mittag. Ich saß gerade am Küchentisch und trank eine Tasse Tee. Das Radio war eingeschaltet. Ich schnitt mit einem Messer das Brötchen auf und schmierte Butter auf die obere Hälfte. Ich schlug die Zeitung auf. Hin und wieder schaute ich auf die Uhr. Dann klingelte es an der Tür, ein langes schrilles Klingeln, wie es entsteht, wenn man direkt vor der Wohnungstür steht und auf den Knopf drückt.

Vielleicht war es einer der Nachbarn, dachte ich. Manchmal kommen sie vorbei, um sich von mir Werkzeug zu leihen. Oder, was wahrscheinlicher war um diese Uhrzeit, es war jemand von der GEZ. Ich stellte das Radio aus, zog den Stecker raus und legte es im Schlafzimmer unter das Bett.

Ich schaute durch den Spion. Vor der Tür stand ein Junge, er hielt eine Mappe in der Hand. Es machte keinen Sinn, so zu tun, als wäre ich nicht da. Er hatte das Radio gehört und meine Schritte. Ich öffnete die Tür einen Spalt.

„Was gibt’s?“, fragte ich. „Ich hab nur ein paar Fragen an Sie.“ Er war etwa in meinem Alter, und das kam mir unpassend vor. Er hatte dunkle Haare und eine Narbe über dem rechten Auge. Er trug einen Kapuzenpullover und Jeans. Er nahm einen Stift und schlug die Mappe auf. „Also“, sagte er, „es dauert nicht lang.“ „Das will ich hoffen, ich bin beim Essen.“ Ich bat ihn nicht herein und hielt die Tür so, dass er nicht in den Flur sehen konnte.

„Wie würden Sie die Rückfallquote von Drogensüchtigen in der Bundesrepublik einschätzen?“ fragte er. „Gibt es da irgendwelche Zahlen“? „Ja“, sagte er, „32 Prozent, 54 Prozent oder 68 Prozent.“ „54“. Er machte ein Kreuz neben die Zahl. „Sind Sie der Meinung, dass leichte Drogen legalisiert werden sollten?“ „Was für Drogen?“ „Cannabis zum Beispiel.“ „Warum nicht“, sagte ich, „nimmt ja sowieso jeder.“ Er machte wieder ein Kreuz. „Haben Sie schon mal einen Joint geraucht?“ „Nein.“ „Ach, kommen Sie. Mir können Sie es doch sagen. Das hier hat nichts mit dem Fragebogen zu tun. Ich frage das nur aus persönlichem Interesse.“ „Nein, mir wird schlecht davon.“ „Also doch“, sagte er und machte wieder ein Kreuz. „Hey“, sagte ich, „was soll das? Ich dachte, Sie fragen das nur aus persönlichem Interesse?“

Er schrieb etwas in ein Feld und hielt die Mappe so, dass ich nichts sehen konnte. Als er fertig war, sah er mich an. „Würden Sie sich für Drogenabhängige engagieren?“ „Sie meinen ehrenamtlich, in einem gemeinnützigen Projekt oder so“? „Nein“, sagte er, „viel einfacher.“

Er klappte die eine Mappe zu und eine andere auf und reichte sie mir. „Es geht nicht um ein Abonnement“, sagte er. In der Mappe standen die Namen von Zeitschriften und Magazinen und dahinter die Preise. „Sehen Sie, es ist alles ganz einfach.“

Ich starrte auf die Namen und Zahlen, er redete, und ich merkte, dass ich ihm nicht mehr zuhörte. Ich war enttäuscht, und ich ärgerte mich, ehrlich geantwortet zu haben.

„Nur noch 29, dann habe ich es geschafft“, sagte er. „Was geschafft?“ fragte ich. „Ich brauche noch 29 Unterschriften, dann habe ich es geschafft.“ „Was geschafft?“ „Einen Therapieplatz, dann bekomme ich einen Therapieplatz“, sagte er.

„Das hier ist eine Art Probe. Ich bin auf Entzug, wissen Sie. Ich war drei Jahre heroinabhängig, jetzt bin ich 22, ich habe eine Frau und eine Tochter, und ich will das endlich in den Griff kriegen.“

Er sprach ganz ruhig, so als habe er das schon hundert Mal erzählt, wie einer dieser Sätze, die ihnen antrainiert werden. „Wie viel braucht man denn?“, fragte ich und klappte die Mappe zu.

Ich wollte das Gespräch für beide Seiten möglichst angenehm zu Ende bringen. Er zögerte, als ich ihm die Mappe zurückgab. „200“, sagte er, „und jetzt fehlen mir nur noch 29. Ich bin fast am Ziel.“ „Ja“, sagte ich, „bald haben Sie’s geschafft.“ „Werden Sie unterschreiben?“, fragte er. „Nein.“ „Aber es ist kein Abonnement.“ „Es ist mir egal, was es ist. Ich habe kein Geld für so was.“

Als ich merkte, dass er beleidigt war, sagte ich: „Ich habe überhaupt kein Geld, demnächst werde ich noch Wohngeld beantragen müssen, um diese Bude hier bezahlen zu können.“

Ich ließ ihn einen Blick in meinen Flur werfen. Auf dem Fußboden standen ein paar Farbeimer, daneben alte Zeitungen, eine Leiter, das Fahrrad. Und da bat er: „Dürfte ich mal ihre Toilette benutzen. Ich habe schon bei Ihren Nachbarn geklingelt, aber es ist niemand zu Haus.“

Mir war nicht ganz wohl bei der Sache. Ich lasse nicht gerne Leute in meine Wohnung, versuche, ein Treffen immer außerhalb zu arrangieren. Meistens schlage ich vor, selbst vorbeizukommen. In der Regel sind alle damit einverstanden. „Kann ich nun oder nicht?“, fragte er.

In dem Moment musste ich an die benutzte Zahnseide denken. Am Abend zuvor hatte ich mir damit die Zahnzwischenräume gereinigt und mir dabei das Zahnfleisch aufgerieben. Ich erinnere mich noch genau an die roten Stellen auf dem weißen, gewachsten Faden. Ich bin mir ganz sicher, dass ich die Zahnseide nicht wie sonst gleich in den Mülleimer geschmissen, sondern auf die Ablage neben den Spiegel gelegt hatte. Schon als Kind hatte ich ein Gespür dafür, wenn etwas fehlte und meine Geschwister in meinem Zimmer gewesen waren.

Ich wollte noch etwas sagen, aber da war er schon an mir vorbei im Flur. „Diese Altbauwohnungen sind alle gleich“, sagte er, „machen Sie sich keine Umstände, ich komm schon zurecht.“

Er schloss die Badezimmertür. Ich hörte, wie er den Deckel hochklappte und ins Becken pinkelte. Ich ging in die Küche und trank einen Schluck von dem Tee, der inzwischen kalt geworden war. Ich setzte neues Wasser auf, biss im Stehen in das angefangene Brötchen und las beiläufig in der Zeitung. Nachdem er gespült hatte, kam er in die Küche und sagte: „Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Meist stoße ich auf Ablehnung.“ „Kein Problem“, sagte ich und brachte ihn zur Tür. Ich hörte, wie er bei meiner Nachbarin klingelte, und als niemand öffnete, stieg er die Treppen hoch und versuchte es bei den anderen.