Das „Jerusalem von Litauen“: Wilna

Litauen und seine Hauptstadt Wilna haben eine lange Okkupationsgeschichte. 1795 wurde das Land dem russischen Reich einverleibt. Im Ersten Weltkrieg wurde es von deutschen Truppen besetzt. Nach dem Krieg erklärte es seine Unabhängigkeit. 1920 annektierte Polen Wilna und einen Teil Litauens.

Mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 endete die Unabhängigkeit auch des restlichen Litauens, es wurde sowjetisch besetzt. 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht ein. Ihre Besatzungszeit endete 1944 mit der Rückeroberung durch die Rote Armee. Litauen wurde zu einer der insgesamt fünfzehn Sowjetrepubliken.

Im Zuge des allgemeinen Umbruchs in Osteuropa erklärte Litauen im März 1990 seine Unabhängigkeit für wiederhergestellt. Im Januar 1991 griffen sowjetische Panzer in Wilna Parlament und Fernsehsender an. Nach dem erfolglosen Putsch in Moskau im August 1991 verließen die sowjetischen Truppen Litauen.

Mehrere hundert Jahre lang war Wilna ein Zentrum des europäischen Judentums. Etwa ein Viertel der Einwohner waren Juden. Sie sorgten für eine sichtbare jüdische Kultur mit Tageszeitungen, Bibliotheken, Schulen, Museen und Synagogen, die der Stadt den Beinamen „Jerusalem Litauens“ einbrachte.

Heute gibt es in ganz Litauen nur noch etwa fünftausend Juden.

Grigorij Schur

„Mein Vater Grigorij Schur wurde 1888 in Wilna geboren. Er besuchte ein russisches Handelsgymnasium. Ich glaube, er war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Er arbeitete als Redakteur der Zeitung Odna kopejka („Eine Kopeke“). Er wurde verhaftet und in die kaspische Steppe verbannt. Ende 1913 kehrte er nach Wilna zurück. 1914, nach der deutschen Besetzung von Wilna, begann er mit der Herausgabe einer deutschsprachigen Zeitung. Nach der Revolution diente er kurzzeitig in der Roten Armee. Von den Polen wurde er verurteilt und ins Gefängnis gesteckt; er kam mit Mühe wieder frei.

Später eröffnete er einen Laden für Elektrogeräte. In den Dreißiger Jahren beteiligte er sich an der Gründung der Fridlandpartei, die sich für die Errichtung von jüdischen Landwirtschaftsgenossenschaften einsetzte. 1940, nach der Errichtung der Sowjetmacht in Litauen, wurde Vater Redakteur der kleinen Zeitung Gudok („Pfeife“). 1941 wurde unsere Familie, wie alle übrigen Juden auch, ins Ghetto getrieben.“ (aus einem Brief von Miriam Povimonskaja-Schur)