Fangschüsse auf das Weichziel Mensch

Die von Innensenator Eckart Werthebach angekündigte neue Polizeimunition entspricht zwar einem Beschluss der Innenministerkonferenz. Doch die ursprünglichen Anforderungen für die umstrittenen Patronen wurden herabgesetzt. Und die ethischen Fragen sind weiter ungelöst

„Im Simulationsmaterial Gelatine wird (...) eine Eindringtiefe von zwanzig bis dreißig Zentimetern gefordert“

Hinter anderen Bundesländern herzuhinken ist Eckart Werthebachs (CDU) Sache nicht. Und so erklärte der Innensenator nach Weihnachten kurzerhand, er wolle Berlins Polizei mit neuer Munition ausstatten. Bayern und Baden-Württemberg führen die so genannte Deformationsmunition bereits seit Oktober 2000 schrittweise ein. Nordrhein-Westfalen will in der ersten Jahreshälfte 2001 mit der Beschaffung beginnen. Wann dies auch in Berlin geschehen soll, ist nach Auskunft von Werthebachs Sprecherin Isabelle Kalbitzer hingegen noch völlig offen. Ähnliches ist aus Brandenburg zu hören.

Bislang verwendet die Polizei Geschosse, deren Ummantelung verhindert, dass sich die Patrone bei einem Körpertreffer verformt oder zerlegt. Die neuen Deformationsgeschosse hingegen verformen sich unmittelbar beim Aufprall und geben dabei den größten Teil ihrer Energie ab. Die Gefahr von Querschlägern wird dadurch weitgehend gemindert.

Was jedoch auch Werthebach nicht sagt: Im menschlichen Körper richtet das Geschoss erheblich größere Verletzungen an als die bisherige Vollmantelmunition. Je stärker es aufpilzt, desto größer ist die Energieabgabe und damit die Schwere der Verletzungen.

Bei Kritikern sind Deformationsgeschosse deshalb stark umstritten. Sie warnen vor der Gefahr irreversibler Schädigungen bei Gewebe und Knochen. Unter Umständen bis hin zur Notwendigkeit von Amputationen. Rechtlich allerdings ist Werthebachs Entscheidung durch einen Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) vom November 1999 gedeckt.

Hintergrund ist ein tragischer Fall in München. 1998 hatte dort eine Polizistin aus kurzer Distanz auf einen Mann geschossen, der sie mit einem Messer angegriffen hatte. Der Schuss durchschlug den Körper des Angreifers und tötete auch den hinter ihm stehenden Mann. Seither suchte die IMK nach neuer Polizeimunition mit sofortiger „Mann-Stopp-Wirkung“, die den Getroffenen sofort angriffs- und fluchtunfähig machen soll.

Zusätzlichen Schwung brachte die turbulente Kampfhunde-Diskussion des letzten Jahres. Von den Spezialeinsatzkommandos (SEK) der Polizei werden solche Geschosse bereits seit längerem benutzt, für den regulären Polizeidienst galt die dort verwendete Action-1-Munition wegen der Gefahr der Splitterbildung jedoch als ungeeignet. In Berlin wurde diese Munition deshalb auch beim SEK längst ausgesondert.

Inzwischen hat die Waffenbranche neue Patronen entwickelt. Für die Geschosse von Dynamit Nobel und des österreichischen Herstellers Hirtenberger soll in Kürze die Zertifizierung beginnen. Dies bedeutet, dass der Hersteller seine Entwicklung an Kriterien messen lassen muss, die in einer Technischen Richtlinie festgelegt sind. Darin heißt es unter anderem: „Im Simulationsmaterial Gelatine wird (...) eine Eindringtiefe von 20 bis 30 cm gefordert.“ Durch diese Vorgabe sollen beim „Weichziel“ Mensch die zu befürchtenden Schwerstverletzungen minimiert werden. Zudem darf sich das Geschoss nicht zerlegen.

Dieses Zertifizierungsverfahren hat die „Polizei-Einsatz-Patrone“ (P.E.P.) der Metallwerk Elisenhütte GmbH Nassau (MEN) bereits im Herbst 2000 abschließend durchlaufen. Zwar waren hier bei der 5.000-Schuss-Dauererprobung bei Waffen wie etwa der von der Berliner Polizei verwendeten Pistole „SIG Sauer P 6“ Probleme aufgetreten. Doch die sind beseitigt. Kurzerhand wurden die ursprünglichen Anforderungen allgemein etwas heruntergesetzt und MEN hat seine Munition nachgebessert.

Auch für die in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg gebräuchliche Pistole P 228, die in die Erprobung offiziell nicht einbezogen wurde, weil ihr selbst die Zertifizierung fehlt, gilt sie nun als geeignet. Technisch gilt die P.E.P. damit jetzt als einführungsreif.

Das ethische Problem jedoch bleibt. Darf man einen Menschen bewusst schwerer verletzen, um so möglicherweise Umstehende besser zu schützen? Und wie ist der Einsatz von Deformationsmunition zu rechtfertigen, wenn sich herausstellt, das es sich nur um einen vermeintlichen Angriff gehandelt hat?

Oesten Baller, Professor für öffentliches Recht an der Berliner Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, wo der Polizeinachwuchs ausgebildet wird, weist auf einen weiteren Umstand hin. Einer IMK-Statistik für die Jahre 1988 – 1997 zufolge wurden 69 Prozent aller Polizeischüsse auf Personen abgegeben, die sich ihrer Festnahme durch Flucht entziehen wollten, oder um einen Ausbruch zu verhindern. OTTO DIEDERICHS