Als dem Bundeskanzler einmal sehr kalt war

■ Eigentlich wollte das Garntheater nur ein Drama von paul m waschkau zeigen. Erst war nur ein einziger Zuschauer da, und dann kam ein Anruf aus Bonn. Ein wahres Märchen

Es gab einmal einen Mann, der schon viele Jahre bei einer großen deutschen Partei hinter den Kulissen arbeitete. Auf seine alten Tage zog er wie viele andere nach Berlin und ließ seine Familie in Bonn zurück. Eines Tages kam seine Frau zu Besuch in die Hauptstadt. Sie war sehr erschrocken über den Schmutz und die Hässlichkeit der Stadt, und bei sich dachte sie, dass es von Bonn aus doch viel näher nach Paris ist als nach Berlin. Am Abend wollte der Mann ihr endlich etwas Schönes zeigen. Er hatte zwei Plätze im Deutschen Theater reserviert. Da wollte die Frau aber nicht mehr. Sie hatte schon genug von dieser Stadt. Nur eines interessierte sie noch. In einem Berlin-Programm hatte sie entdeckt, dass es eine dramatische Fassung von Kafkas Brief an seinen Vater zu sehen gibt, und weil sie so etwas noch nie gesehen hat, auch in Paris und London und New York nicht, wollte sie, aus alter Liebe zu Kafka, das nicht verpassen. „Und wo findet das statt?“, fragte der Mann. Im Garntheater,“ sagte die Frau.

„Wo?“, fragte der Mann. Aber da sich die beiden in Berlin sowieso nicht auskannten, war das Garntheater ein unbekanntes Theater wie jedes andere unbekannte Theater auch. Der Taxifahrer, der sie in die Katzbachstraße 19 brachte, fragte: „Sind Sie sicher, dass sie hier rauswollen?“ Alles war dunkel und nichts sprach dafür, dass sich in dem abgelegenen Straßenteil ein Theater befinden könnte. Aber obwohl den beiden etwas mulmig war, betraten sie mutig das Haus, den Hof und schließlich die steile Treppe, die nach unten in das Gewölbe des Theaters führt. Außer ihnen waren noch vier andere Besucher gekommen. Sie sahen den chilenischen Schauspieler und Regisseur Adolfo Assor, der in seinem Theater schon viele große Texte zu neuem Leben erweckt hat, in einer seiner Lieblingsrollen. Die beiden waren sehr berührt und tief beeindruckt. Danach sagte die Frau zu ihrem Mann: „Berlin ist scheußlich, aber dieses kleine Theater ist der wunderbarste Ort in der ganzen Stadt.“

Und so kam es, dass der Mann einige Tage später wieder in das kleine Kellertheater ging, um eine neue Aufführung zu sehen, mit dem Titel „Die Galeere der Kaltblüter“, von einem Dichter, dessen Namen er noch nie gehört hat. Dieses Mal fand er sich ganz allein in dem kleinen Theater wieder. Nur ein Journalist war noch gekommen. Die Vorstellung fiel aus und so unterhielten sich der Mann, der Schauspieler und der Journalist über das Theater und die Stadt. Der Mann erzählte, dass die politische Clique sich für Theater nicht interessiert und dass man auf sie nicht zählen könne. Der Journalist sagte, dass die Bewohner der Stadt aus Unsicherheit und Angst in die Konsumkathedralen drängen und das Theater, und jede gute Kunst, deshalb leiden müsse. Der Schauspieler lächelte weise und schwieg. Der abwesende Dichter, paul m waschkau, fragte aber die abwesenden Frauen: „Warum habt ihr nicht eingegriffen, als die großen Tage der Dichter begannen, und sie die herausgeschälten Gehirne der geschlachteten Kinder in die Luft hielten und sprachen: Die Wirklichkeit interessiert uns nicht. Warum, habt ihr nicht eingegriffen, als die Dichter sprachen: Wir träumen von der Revolution der Wortspiele bei Mitternacht. Wir träumen im Auftrage eines Pharmakonzerns. Wir sind imgrunde unseres Herzens kalt, und zudem, physisch blind.“

Da klingelte das Handy des Mannes und es war ein Mitarbeiter des Bundeskanzlers dran. Der befand sich in einer wichtigen Besprechung und suchte den Hausmeister, weil ihm kalt geworden ist. Der Mann war aber gar nicht der Hausmeister, weshalb er auch nicht helfen konnte. Und so friert der Bundeskanzler bestimmt heute noch. Felix Herbst

„Die Galeere der Kaltblüter“ im Garntheater, dienstags bis samstags, 20.30 Uhr.