Die Boomstadt der Völkermörder

In der westkambodschanischen Kleinstadt Pailin, die vom früheren Außenminister der Roten Khmer und seinen Soldaten kontrolliert wird, blühen seit einem Jahr Marktwirtschaft und Dekadenz  ■ Aus Pailin Jutta Lietsch

Wenige Kilometer vor Pailin will ein Soldat Ausweise sehen: „Hier ist die Grenze zwischen dem Regierungsgebiet und der separaten Region von Pailin“, sagt er. Schließlich gibt er sich mit einer Visitenkarte zufrieden und winkt den Wagen durch. Rotweiße Barrikaden verlangsamen die Fahrt am Anfang des Ortes. An den Schwanz der mythischen Schlange Naga, die rechts und links den Aufgang zur Pagode von Pailin ziert, lehnt ein Mönch. Ein Schild verkündet: Hier beginnt Pailin, „Ort des Friedens, der Versöhnung und der nationalen Einheit“.

Noch vor einem Jahr wäre es lebensgefährlich gewesen, auf der Nationalstraße Nr. 10 von der westkambodschanischen Stadt Battambang aus bis in das geheimnisumwitterte Pailin vorzudringen. Denn von hier aus führten die Roten Khmer ihren Guerillakrieg gegen die Regierung in Phnom Penh. Doch das ist Vergangenheit: 1996 fiel die über Pailin herrschende Fraktion der Roten Khmer von ihrem „Bruder Nr. 1“, Pol Pot, ab und legte die Waffen nieder.

Oberster Überläufer war der frühere Außenminister Ieng Sary, einst von den Vietnamesen für seine Beteiligung am Völkermord zum Tode verurteilt. Vor einem Jahr erhielt er Amnestie und Autonomie. Seine Soldaten zogen die Uniform der Regierungsarmee an. Der Rote-Khmer-General Y Chhien verwandelte sich in den Gouverneur der Sonderverwaltungseinheit Pailin. Nun sind dort Marktwirtschaft und Dekadenz eingezogen: Aus den Restaurants, die sich wie eine Kette an der Nationalstraße 10 aneinanderreihen, tönt Musik und Kampfgetümmel. Fasziniert starren die Gäste auf chinesische Kung-Fu-Streifen, thailändische Dramen und Karaoke-Videos. Davor beugen sich Edelsteinhändler mit ihren Lupen über blaue Saphire oder Rubine. Pailin ist Kambodschas Zentrum für edle Steine und Hölzer. Hier finanzierten die Roten Khmer ihren Krieg gegen die Regierung. Ihre Partner waren thailändische Militärs und Geschäftsleute, die über die nahe Grenze schlüpften. Für sie hat sich wenig geändert: Tag und Nacht fressen sich Bagger thailändischer Firmen in Pailins Boden. Vom Pagodenberg wird die Zerstörung deutlich: Pausenlos bringen riesige Lastwagen das Erdreich vor die Stadt, wo die Edelsteine in großen Anlagen herausgewaschen werden.

Seit sechs Jahren macht der Thailänder Samleung Geschäfte mit Pailins Roten Khmer. Stolz wedelt er mit seiner thailändischen Einfuhrlizenz für Edelholz, die Premier Chavalith persönlich unterzeichnet hat. Nachdem die Regierung in Phnom Penh den Holzschlag verboten hat und internationale Umweltorganisationen den Raubbau an Kambodschas Wäldern beobachten, sind die Geschäfte schwieriger geworden. Samleung darf nur noch gesägtes Holz nach Thailand transportieren. Schuld sind „Amerika und Greenpeace“ mit ihrer Umweltschutzpropaganda, ist der Thailänder überzeugt. Dem Gouverneur Y Chhien baut er derzeit eine Villa im Zentrum Pailins.

Die Obsthändlerin Sreng Vanna stammt, wie die meisten Geschäftsleute auf dem Platz, nicht aus Pailin, sondern aus dem knapp hundert Kilometer entfernten Battambang. Obwohl jeder arbeitete, war es schwer, die Familie satt zu bekommen, berichtet sie. Deshalb folgte sie vor einem halben Jahr dem Strom arbeitsuchender Abenteurer aus ganz Kambodscha, die in Pailin ihr Glück suchen. Zu Anfang „hatten wir noch Angst vor den Roten Khmer“, gesteht sie. Schließlich hatten sich wenige Monate zuvor Regierungstruppen und Rote Khmer beschossen. Und als der Mönch Maha Gosanandha 1996 seinen Friedensmarsch mit Mönchen, Nonnen und Laien nach Pailin führen wollte, starben Teilnehmer unter den Kugeln der Roten Khmer.

Aber die Vergangenheit ist vorbei, und Sreng Vanna ist mit dem Schicksal zufrieden. Ihre Tochter verdient als Friseuse in Pailin mehr als früher die ganze Familie zusammen. Außerdem fühlt sie sich hier sicherer als anderswo in Kambodscha. In Pailin gibt es weder Verbrechen noch Prostitution, behauptet ein Funktionär, der sich als „ehemaliger Sicherheitsoffizier“ vorstellt. Ein Polizist sagt: „Gefängnisse brauchen wir bislang nicht.“ Übeltäter würden umerzogen. Das glaubt niemand. „Die machen mit ihnen kurzen Prozeß“, meint eine Nudelköchin und findet das in Ordnung.

Die alten Methoden sind nicht vergessen: Durch öffentliche Lautsprecher tönen Ermahnungen zum rechten Lebenswandel. Sie richten sich vor allem an Neuankömmlinge. „Wir sind besorgt, daß jetzt schlechte Elemente angezogen werden“, sagt ein Beamter. Seit letztem Jahr ist die Bevölkerung der Region von 25.000 auf über 30.000 angewachsen. Pailin ist gleichzeitig Boomtown und Zwei- Straßen-Dorf, dessen ungepflasterte Wege sich bei Regen in Schlammbahnen verwandeln. Offiziere und Geschäftsleute kurven in Geländewagen durch den Ort, Soldaten schlendern mit Maschinengewehren durch die Straßen.

In der neuen Markthalle verkaufen die HändlerInnen Bürsten, Radios, Stoffe, Haarspangen, Moskitonetze, Matten, Reis. Ein paar Betonbauten, von schwarzem Schimmel angefressen und von Granaten zerschlagen, künden von der Vergangenheit: 1995 hatte die Regierungsarmee Pailin für kurze Zeit eingenommen. Als sie von den Roten Khmer wieder vertrieben wurden, „haben die Soldaten alles ausgeräumt und sogar die Fensterrahmen mitgenommen“, sagt ein Bewohner. Der Aufschwung ist nicht zu übersehen: Neben Steinvillen entstehen vor allem Stelzenhäuser aus Holz mit Palmblatt- oder Wellblechdach.

Vor einer kleinen Fabrik, die Eisblöcke herstellt, steht der Manager, ein grauhaariger Mitvierziger mit deutschem Paß und überraschender Vergangenheit: Khieu Vannrith ist erst vor einem halben Jahr nach Pailin zurückgekehrt – nach 27jährigem Exil in Berlin und Göttingen. Er ist der Neffe von Pol Pots erster Frau, der Schwägerin Ieng Sarys. „Ich will meinem Onkel beim Aufbau helfen“, sagt der Elektrotechniker, der früher an der Technischen Universität Berlin Wissenschaftlicher Mitarbeiter war. Das sei aber nicht einfach. Die Leute hätten unter den Roten Khmer nie gelernt, selbstverantwortlich zu arbeiten, sagt er. „Sie haben keine Ausbildung gehabt und waren immer nur im Krieg.“

Jetzt träumen viele davon, wertvolle Rubine oder Saphire zu finden und auf einen Schlag steinreich zu werden. Khieu Vannrith erinnert sich an seine Kinderzeit, als er mit seinem Onkel Pol Pot in Phnom Penh ins Kino ging: „Er liebte Westernfilme, aber das durfte ich der Tante nicht sagen, mit der sah er sich nur Revolutionsstreifen aus China an.“ Das war Anfang der sechziger Jahre, bevor Pol Pot in den Untergrund ging und als Kopf eines Terrorregimes wiederauftauchte, dem auch viele Angehörige von Khieu Vannriths Familie zum Opfer fielen.

Im Zentrum überragt ein dreistöckiges Gebäude den Ort – das Gästehaus der Regierung von Pailin, dessen Empfangsraum von trüben Politsitzungen und schnellen Geschäften kündet: Lange hellblaue Vorhänge sperren das Tageslicht aus, eine braune Kunstledergarnitur gruppiert sich um den flachen Glastisch. Von der Wand blicken König Sihanouk und Königin Monique skeptisch herab.

Ieng Sary hat sich vom Außenminister der Roten Khmer zur lächelnden grauen Eminenz von Pailin gewandelt. Zur Zeit steht er unter starkem Druck. Er will auf keinen Fall in den Bürgerkrieg im Norden hineingezogen werden. Dort kämpfen Anhänger des gestürzten Premiers Prinz Norodom Ranariddh zusammen mit ehemaligen Parteigenossen aus Anlong Veng gegen Truppen des starken Mannes Kambodschas, Kopremier Hun Sen. Der 74jährige Ieng Sary sagt: „Wir sind neutral.“ Alle Berichte, seine Offiziere hätten sich mit Hun Sens Gegnern verbündet, „sind völlig falsch“.

Seit dem vergangenen Jahr haben die Politiker in Pailin alles daran gesetzt, nicht in den Machtkampf in Phnom Penh hineingezogen zu werden. Bislang mit Erfolg: Während sich die Politiker in der Hauptstadt stritten, gingen Sary und seine Leute ihren Geschäften nach. Pailin zahlte noch nicht einmal Steuern an die Zentrale. Aber mit der Ruhe scheint es vorbei. Einige Offiziere wollten gegen den Gouverneur putschen. Jetzt habe man wieder alles im Griff, versichert Sary. „Wir wollen nur eins: nationale Einheit, Versöhnung und ein Ende des Krieges.“

Auf dem großen Platz von Pailin feiert seine neue „Demokratische Bewegung der Nationalen Einheit“ den ersten Jahrestag der Trennung von Pol Pot. Das Gras ist von Flaschen und Plastiktüten übersät, vor Imbißständen liegen Kokosnußbüschel, Saftverkäuferinnen schieben Zuckerrohr durch ihre Pressen. Eine Band spielt kambodschanische und thailändische Schnulzen. Davor üben sich Soldaten, Bauern, schüchterne Schöne und neugierige Kinder im Tanz. Zwischen den Feiernden patrouillieren Militärpolizisten. Sie passen auf, daß der Spaß nicht außer Kontrolle gerät: Wenn ihnen der Tanz zu wild erscheint, schieben sie die Leute auseinander. Hundert Meter weiter frißt sich ein Bagger unter Flutlicht durch die Erde. Unentwegt rollen Lastwagen durch die Nacht.