Jedem sein Zensus

■ Nachrichten aus Umtata, Teil sechs: Das Millionenproblem

Wieviele Einwohner hat Bremen? Im Statistischen Landesamt spuckt der Computer eine exakte Zahl aus, und alle glauben, daß sie stimmt. Deutsche Gründlichkeit macht den Zensus zum Staatsmonopol. Wieviele Einwohner hat Umtata? Auf diese Frage gibt es ungefähr genausoviele Antworten wie Umtata Einwohner hat. Jeder darf seine eigene Rechnung aufmachen. Die Ergebnisse schwanken zwischen 60.000 und einer Million, und fast alles sind sie gut begründet. Nirgendwo ist der Zensus demokratischer als in Umtata.

„Die offizielle Zahl ist irgendwas um 80.000, aber ich bin sicher, daß es über 100.000 sind“, meint zum Beispiel Joe Lekay. Als Abgeordneter des Stadtrates kennt er die Zahl der registrierten Wahlberechtigten bei der letzten Kommmunalwahl in Umtata (62.644) und auch die Zahl von 93.530 Einwohnern aus dem letzten Zensus 1991, mit der die Stadt bei der Provinzregierung ihren Anteil an der Kommunalfinanzierung einklagt.

Eine ganz andere Vorstellung haben dagegen Umtatas Stadtwerke von der Anzahl ihrer KundInnen. „Wir versorgen 300.000 Menschen mit Strom oder Wasser oder beidem“, heißt es dort. Und dann gibt es noch all die Wellblechhüttensiedlungen, in denen Tausende das Wasser aus dem Fluß holen und sowieso nichts hätten, was man in eine Steckdose stöpseln könnte. „Mindestens eine halbe Million“, vermuten deshalb diejenigen, die der Buchhaltung der Stadtwerke nicht von vornherein mißtrauen.

Das Lichtermeer, auf das ich abends von meinem Schreibtisch gucke, sieht sogar eher nach Millionenstadt aus. Besonders eindrucksvoll ist es, nach einem der üblichen Stromausfälle zuzusehen, wie Stadtteil für Stadtteil wieder aufleuchten, als hätte ich eine dieser Museumskarten vor mir, auf denen man sich von bunten Lämpchen zum Beispiel alle Postämter der Stadt zeigen lassen kann.

Was war die Welt dagegen im Apartheid-Staat noch übersichtlich. In den 60er Jahren hatte Umtata 3.400 Einwohner. Das waren die Weißen, die hatten Wahlrecht, Strom und Wasser, und der Rest der Bevölkerung zählte sowieso nichts. 1974, kurz bevor Umtata als Hauptstadt der Transkei von Pretoria in die „Unabhängigkeit“eines abhängigen Homelands entlassen wurde, gab es offiziell 4.500 weiße und 20.000 schwarze EinwohnerInnen. Für Ngangelizwe, Umtatas größten Stadtteil, lag die offizielle Bewohnerzahl damals zwar schon bei 35.000, aber Ngangelizwe war ein schwarzes Township und wurde natürlich nicht mitgezählt.

Hugh Mcmillan, ein schottischer Historiker an Umtatas Universität, hat die Einwohnerfrage zum wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse erhoben. Nachdem Stadtverwaltung, Stadtwerke und statistische Angaben ihn ratlos ließen, hat er sich an die Bar des örtlichen Holiday Inn gesetzt. Dort treffen sich in der Woche die weißen Geschäftsleute, die zwar nicht im afrikanischen Umtata leben, wohl aber hier gutes Geld machen wollen. Darunter war auch ein Schlachterei-Lieferant. Nach dem dritten Bier offenbarte er dem Geschichtsprofessor sein Geschäftsgeheimnis: 30 Tonnen Wurstdarm werden jede Woche nach Umtata transportiert. Seit dieser Begegnung glänzt Hugh Mcmillan bei jeder Gelegenheit mit einer eigenen Hochrechnung der Einwohnerschaft seines Wohnortes: Wenn 50 Gramm Darm ein Kilo Wurst zusammenhalten, dann würden demnach 600.000 Kilo Burenwurst pro Woche in Umtatas Schlachtereien produziert. Und von Umtatas Bevölkerung aufgegessen. Bei einem dem Augenschein nach keineswegs zu hoch angesetzten Schnitt von einem Kilo Wurst pro Kopf pro Woche kämen wir auf 600.000 EinwohnerInnen.

Das würde auch erklären, warum sich schon morgens um halb neun die Schlange vor den Schaltern der größten Bank in der Stadt um vier Straßenecken windet. Zwischen drei und acht Stunden setzten Geschäftsleute in Umtata für ein Bankgeschäft an. Warum die Banken bei soviel Kundschaft nicht einfach mehr Filialen aufmachen? Das ist auch eine schöne Frage, und in Umtata gibt es auf sie ungefähr genausoviele Antworten wie Banckunden. Dirk Asendorpf