„Der Menschheit ums Herz wachsen“

Cannabis als Einstiegsdroge in die Anthroposophie? Eine Fachtagung am Goetheanum entdeckt Integrierendes und Verbindendes an der Kulturpflanze und spekuliert über die positiven Impulse kreisender Joints  ■ Von Volker R. Steimel

Am Goetheanum in Dornach bei Basel, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft oder, profaner, dem Headquarter der Anthroposophen, trafen sich Anfang März ÄrztInnen, ApothekerInnen und in der Heilmittelherstellung Tätige zu einer viertägigen Arbeitstagung. Im Einladungsschreiben war der ambitionierte Versuch angekündigt, die anthroposophisch-methodische Fragestellung, „wie wir zur Wesenserkenntnis unserer Heilmittel vorzudringen lernen“, nunmehr am Beispiel der Hanfpflanze fortzusetzen. Wesentliche Grundlagen hierfür lieferten Arbeiten wie zum Beispiel die zirka einjährige Forschungstätigkeit von Professor Gorter am Institut für onkologische und immunologische Forschung in Berlin (siehe Artikel Seite 18).

Mit der einseitigen und falschen Betonung der Gefahren von Cannabis als Droge wird eine dem Wesen der gesamten Pflanze angemessene Betrachtung sowie ihr rationaler Einsatz der vielen segensreichen therapeutischen Wirkungen verhindert, meinen die OrganisatorInnen. Deshalb solle Cannabis in ein geisteswissenschaftlich erweitertes Verständnis von Krankheit und Heilung einbezogen werden.

Eröffnet wurden die Arbeitstage mit Professor Gorters Wunsch, die Pflanze zu entkriminalisieren und endlich wieder als Heil- und Nutzpflanze zuzulassen. Hierzu könne dieser Workshop einen Beitrag leisten. Und das Programm versprach einiges: Cannabis und seine kulturelle Bedeutung im Gang der Geschichte, seine Morphologie, seine Substanzbildung, seine Heilpotenz, seine psychotrope Wirkung und somatische Wirksamkeit, seine Dosierung und Darreichungsform, pharmazeutische Fragen, präklinische und klinische Forschung, Entsprechung zwischen Krankheit und Pflanzenwesen sowie ein abschließendes Kolloquium mit der Fragestellung „Wie kann Cannabis wieder zur Heilpflanze werden?“. Nicht gerade wenig für vier kurze Tage und vor allem alles andere als uninteressant.

Bereits am zweiten Tag schien allen TeinehmerInnen bewußt zu werden, daß es sich bei Hanf nicht um irgendeine x-beliebige Pflanze handelt, sondern um „ein besonderes Wesen“, wie es die Botanikerin Ruth Mandera in ihrem Vortrag ausdrückte. Dies hätte sie selbst bereits vor 27 Jahren erahnt, als sie selbst Cannabis als Genußmittel kennenlernte, und diese Ahnung scheine sich durch die zusammengetragenen Erkenntnisse heute tatsächlich zu bestätigen. Hanf sei eine einzigartige Erscheinung in der Pflanzenwelt, die neben dem wirtschaftlichen, ökologischen und medizinischen Nutzen auch für geistige Belange nützlich sein könne, denn sie öffne Türen – nicht mehr und nicht weniger: Cannabis als Einstiegsdroge ganz anderer Art.

Den Cannabisrausch selbst verglich Ruth Mandera mit einem Eintritt in Luzifers Reich: die Welt der Harmonie, der Schönheit und Weisheit. Hinzu komme eine gesteigerte sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit sowie ein klares Bewußtsein. Das eigene Selbst stehe im Mittelpunkt des Geschehens, einhergehend mit einer Polarisierung des männlichen und weiblichen Prinzips. Diese bei der Hanfpflanze besonders in Erscheinung tretende, stark ausgeprägte Zweigeschlechtlichkeit (Zweihäusigkeit) finde sich zwar in allen Naturreichen (Pflanze, Tier, Mensch) wieder, im Pflanzenreich – mit wenigen Ausnahmen – aber überwiegend bei den Bäumen, also mehrjährigen Pflanzen. Als weitere Besonderheit falle auf, daß es in der Natur keine zweite Pflanze gebe, die gleichzeitig Öl, Fasern und Harze liefere, wobei im gemäßigten Klima die Qualität von Fasern und Öl überwiege und in den wärmeren Regionen die des besonders THC-haltigen Harzes.

Dies konnten auch die Apothekerin Elvira Baumann und der Mediziner Martin Straube in ihren Ausführungen bestätigen. Im Vergleich von im Harz enthaltenen, sowohl für die medizinische als auch für die psychotrope Verwendung bedeutsamen Cannabinoiden mit den weit verbreiteteren Alkaloiden (Morphin, Koffein, Kokain, Nikotin) falle auf, daß erstere eine bedeutend andere Struktur aufweisen. Beispielsweise haben sie kein Stickstoffatom und sind fettlöslich, im Gegensatz zu den wasserlöslichen Alkaloiden. Hinzu komme, daß bei Nachtschatten- oder Alkaloidräuschen das Ich ausgeschaltet werde, wohingegen unter Cannabiseinfluß ein gesteigertes Bewußtsein vorherrsche.

Gerade aber diese ungünstigen Zusammenhänge mit den nicht ungefährlichen Nachtschattengewächsen in der älteren anthroposophischen Literatur hätten eine vorurteilsfreie Erforschung von Cannabis in den letzten 20 Jahren verhindert, obwohl dessen relative Ungefährlichkeit in der wissenschaftlichen Literatur seit langem belegt und eine letale Dosis beim Menschen nicht bekannt sei. Selbst in Tierversuchen sei nachgewiesen worden, daß eine tödliche Menge um ein 10.000faches höher liege, als für eine vergleichbare psychotrope Wirkung beim Menschen notwendig wäre. Damit gelte Cannabis als das sicherste aller bekannten Medikamente.

Und das seit Alters her, wie die Berliner Apothekerin und Gorter- Mitarbeiterin Katharina Zeh in ihrem Kulturüberblick nachwies. Die im indischen Kulturkreis traditionell der Gottheit Shiva (Ekstase, Tantra, Askese, Meditation) geweihte Pflanze habe ihren angestammten Platz auch in europäischen Überlieferungen, wenn dies auch gerne von den Hanfgegnern bestritten werde. Verschiedene Riten und Bräuche, wie beispielsweise das Hanfsamensuppe-Essen zu Epiphanias, das Hanfsamen- Streuen (statt Reiskörnern) anläßlich einer Trauung oder die dazugehörige Brautkrone mit Hanfblättern, seien Relikte einer in Vergessenheit geratenen Cannabiskultur in unseren Breitengraden. Geweiht wurde der Hanf der germanischen Göttin Freya, der Hüterin der Liebe, der Ehe und der Fruchtbarkeit.

Um auch die letzten, vielleicht noch bestehenden Ängste auszuräumen, stellte Matthias Stoss, ebenfalls ein Mitarbeiter aus Professor Gorters Team, am dritten Tag die berauschenden Substanzen vor, die uns mit größter Selbstverständlichkeit im Alltag umgeben: von Kaffee und Kakao über Muskat und Petersilie bis Kalmus, Passionsblume und Fliegenpilz. Ein Verbot dieser Stoffe wäre bestimmt genauso unsinnig, wie das Cannabisverbot es sei. Schließlich wußte schon Paracelsus, daß die Dosis das Gift ausmache, weshalb eine adäquate Aufklärung und ein vernünftiger Umgang einen viel wirksameren Schutz böten als Repressionen und Kriminalisierung.

Das abschließende Kolloquium moderierte die Leiterin der medizinischen Sektion der Anthroposophischen Gesellschaft und ehemalige Kinder- und Schulärztin Michaela Glöckler. Sie hob einleitend hervor, wie begeistert sie vom Thema „Hanf als Heilpflanze“ sei. Besonders seine Ich-Nähe mache Cannabis zu einem anthroposophischen Heilmittel – aber andererseits auch so gefährlich. Es sei eine nicht unproblematische Gratwanderung zwischen der Veränderung des Bewußtseins und des Körpers. Schaden entstehe immer dort, wo der Mensch seine Freiheit verliere – das gelte auf allen Ebenen. Doch im Grunde sei ja jedes Heilmittel bewußtseinsverändernd, allein schon deshalb, weil es die Empfindung des Menschen beziehungsweise des Patienten verbessere.

Rudolf Steiners Bemerkung über die Brennessel – sie müßte „der Menschheit ums Herz wachsen“ – sei auch ein Wunsch, der für die Hanfpflanze zutreffe, die ja schließlich zur gleichen Familie gehöre. Dadurch könnte sie nicht nur ihren angestammten Platz als Heilpflanze zurückerobern, sondern sich auch ganz neue Bereiche erschließen.

Cannabis, so ihr Resümee, habe etwas Integrierendes, etwas Verbindendes, das seinen besonderen Wert ausmache. Deshalb sei sie sich auch sicher, daß, wenn in dieser Runde ein Joint kreisen würde, niemand Schaden erleiden müßte, sondern im Gegenteil alle Anwesenden positive Impulse mit nach Hause nehmen könnten.

Dem ist sicherlich nichts hinzuzufügen.

Der Autor ist Redakteur der Zeitschrift „Hanf!“, in deren nächster Ausgabe dieser Text in ausführlicherer Form erscheint