Metamorphose des Grüns

■ Der Dokumentarfilm Mikrokosmos zeigt nahe Parallelwelten zwischen den Halmen einer Wiese

Nur wenige Worte werden auf den Weg mitgegeben, einige kurze Erklärungen, dann sprechen die Bilder für sich: Eine Wiese, aus luftiger Höhe betrachtet, eher aus Vogel- denn aus Menschenperspektive, wirkt noch bekannt, sommerlich heimelig. Der Sturzflug in die Tiefe des Grüns offenbart dann Unbekanntes, fast Unvorstellbares: In der Winzigkeit anderer Lebensformen existiert hier eine Parallelwelt von perfekter Organisation, großer Schönheit und unerbittlicher Grausamkeit. Auch die Zeit hat hier eine andere Dimension: Eine Stunde, so sagt die Stimme am Anfang, wird zum Tag, ein Tag zur Jahreszeit und eine Jahreszeit zur Lebensspanne.

Einen Tag, eine Nacht und das folgende Morgengrauen haben die französischen Biologen und Filmemacher Claude Nuridsany und Marie Pérennou sich als äußeren Rahmen für ihre Welt- und Wiesenreise Mikrokosmos gewählt. Die Zeitspanne genügt, das Gesamte der Wiesenwelt ebenso aufzuzeigen wie das Nebeneinander von Lebensformen, Armeen und Einzelkämpfern, die Eleganz der Feingliedrigen und die Robustheit der Rundlichen, die Intelligenz von Käfern und die Herdenhaltung von Ameisen. Ein Fasan wirkt in seiner Riesigkeit hier als Godzilla-Ersatz, ein gerade für die Ameisen tödliches Monster in Federboa, und noch viel bedrohlicher als die enormen Wassertropfen eines Regensturms, die mit ihrer Wucht Marienkäfer von den Blättern katapultieren.

In wunderschönen, perfekt ausgeleuchteten Bildern rücken Nuridsany und Pérennou den Bewohnern der Wiese so nahe, daß sie leinwandfüllend werden und verknüpfen Tag-Pfauenauge, Schwalbenschwanz, Prozessionsraupe, Wasserläufer und blaugrüne Mosaikjungfern in ihren Alltäglichkeiten zu fast spielfilmreifen Handlungssträngen. Ihre Grundbedingung ist die Stille, und was die Töne angeht, beschränkt die menschliche Einmischung sich auf gekonnt eingestreute Ton- und Musikfetzen oder auch mal eine Opernarie zum Liebesspiel zweier Weinbergschnecken. Wie Programmusik zeichnen die Noten oft bildnerisch nach, unterstreichen Flügelbewegungen durch Geigenbögen, die Dynamik einer Ranke, einer Blüte, das pralle Leben von Pflanzen, deren Bewegungen wir mit bloßem Auge nur selten sehen.

Nicht wissenschaftlich wollte das Vorgehen der Biologen hier sein. Humor, so Nuridsany im Interview, sei „ein wichtiger Aspekt des Films, auch wenn er nur vereinzelt aufkeimt. Humor schafft von Anfang an eine Art Komplizenschaft.“ Und tatsächlich ist es komisch, wenn dem Pillendreher seine Pille fast abhanden kommt, weil er bergab ins Stolpern gerät. Oder – noch frappierender – wenn die in Gruppen an einem Blatt nagenden weißbehaarten Raupen des Mondvogels sich entsetzt und synchron nach dem Geräusch eines vorbeifliegenden, vielleicht für sie gefährlichen Insekts umdrehen.

Mikrokosmos ist ein Ausflug wie in die Tiefe eines Traums, und ist doch nichts anderes als die Visite einer parallelen Wirklichkeit, deren perfekte Mechanismen wir nur deshalb nicht wahrnehmen können, weil unsere Sinne zu grob sind.

Thomas Plaichinger

Fr, 27. September, 20 Uhr, Filmfest im Abaton