Kirchenlob und -schelte

■ 2. ökumenischer Aids-Gottesdienst

Seifenblasen ziehen schillernd durch den Altarraum, bis sie zerplatzen. Ein Saxophon schickt Schreie und Klagerufe durch das mit Regenbogentüchern geschmückte Kirchenschiff. Männer schließen sich zum Friedensgruß zärtlich in die Arme. Der zweite ökumenische Hamburger Aids-Gottesdienst arbeitete mit eigener Symbolik neben tradidionellen liturgischen Elementen.

Etwa 300 Menschen füllten am Sonnabend unter dem Leitspruch „Heaven can wait“ – der Himmel kann warten – die Hauptkirche St. Katherinen. Da saß das brave Klischeeklientel der Kirche neben dem krankheitsgezeichneten Rollstuhlfahrer und die Punk-Frau neben Männern in geschnürter Lederkluft.

Prominenteste Teilnehmerin war die Bundestagsvizepräsidentin Renate Schmidt (SPD), die in einer Ansprache beklagte, daß das Versorgungssystem in der Bundesrepublik junge Pflegebedürftige nicht ausreichend auffängt, und gerade Aids-Kranke dadurch sehr oft mit dem Existenzminimum der Sozialhilfe auskommen müßten. „Künstlich und unnötig“, so Schmidt weiter, sei die Unterscheidung zwischen „schuldigen und unschuldigen Opfern der Krankheit“.

Der katholische Münchner Aids-Pfarrer Thomas Schwaiger befaßte sich in seiner Predigt mit Ängsten und ermutigte dazu, auf Unbekanntes zuzugehen: „Das Fremde führt uns in den Reichtum der Vielfalt, auch der eigenen, und nimmt nichts weg.“

Der mit über zwei Stunden Dauer besonders für kranke Menschen anstrengend lange Gottesdienst wurde unter anderem durch Wortbeiträge der Hamburger Bürgerschaftspräsidentin Elisabeth Kiausch und „Mister Tagesschau“ Wilhelm Wieben ausgedehnt.

Wie schon im vorigen Jahr sang auch der schwule Chor Hamburg „Schola Cantorosa“. Der erste Aids-Gottesdienst vor einem Jahr sei etwas besonderes gewesen, sagte der gastgebende Hauptpastor Axel Denecke. „Inzwischen ist es normal geworden, und das ist gut so.“

Schöne Worte, der hier passenderweise die Kirchenkritik von Renate Schmidt folgen soll. Sie stellte fest, daß die „zahlreichen Initiativen von Gemeinden und Pfarrern“ in Diskrepanz zur dürftigen Unterstützung der Kirchenleitungen stünden.

Werner Hinzpeter