Tape against the Machine

Exkursion durch die Aufzeichnungen eines 39jährigen Greises: Rainald Goetz' vierbändige Textwüste „Festung“ – Dokument einer literarischen Selbstaufgabe?  ■ Von Thomas Groß

Huch, wo geht das Buch denn los? Rainald Goetz hat nämlich gleich fünf davon geschrieben, fünf Bände auf einen Streich, alle in interpretationsabweisendem unversöhnlichem Blaugelb, alle voll wirrer, vereinzelter Stimmen, zusammengehalten nur durch den Obertitel „Festung“ sowie den offenkundigen Willen, über die Grenzen des Buchmediums hinauszuwuchern. Schon die technischen Daten sind ein wenig einschüchternd: 2.296 Seiten, im Dünndruck wie eine Kommunionsbibel, alle vollgeschrieben mit Wörtern, Zahlen oder sonstigen Zeichen, eine unüberblickbare Textwüste, die sich gelegentlich bloß furios zum Manifest erhebt: „WEG MIT DER VERDUMMUNGSGESCHICHTSSCHREIBUNG ... SO VIELE FRAGEN EINE ANTWORT DA IST MEIN PLATZ.“

Goetz' Platz, das immerhin scheint klar, ist nach wie vor in der „Festung“, der Schreibzelle, banaler: in den eigenen vier Wänden. Von hier aus kontrolliert er den Rest der Welt, von hier aus läßt er seine Versalien aufmarschieren gegen alles, was seinen gerechten Zorn erweckt (und das ist bekanntlich einiges). „Attentäterprosa“ ist dieses Schreiben genannt worden, schon seit dem ersten Roman „Irre“ (1986) ein griffiges Markenzeichen, aber eben auch kein ganz falsches: Dem Literaturbetrieb einfach „nur“ ein weiteres Buch hinzuzufügen, hat einem wie Goetz ja nie genügt, stets waren das Kampfansagen an das verhaßte Allgemeine, ein großangelegtes Ragen against the machine. Es war, als wollten die dürren Buchstaben auch in dieser Dimension aus sich selbst heraustreten, wollten Tat werden und alles, was an dieser Welt unrechtens ist oder sonstwie im argen liegt, einfach so von der Platte putzen.

Wie in „Irre“ also auch in „Festung“? So einfach ist die Linie dann doch nicht zu ziehen, im Gegenteil: Gemessen am überlieferten Anspruch solcher Maximalprosa ist das Fünf-Band-Opus schon beim ersten Durchblättern eine Enttäuschung. Das Buch „Kronos“, laut Klappentext ein Rahmen, der „Festung“ den „konkreten Halt wirklich erlebter Geschichten“ geben soll, entpuppt sich als Sampler bereits anderswo – in Merkur oder der Musikzeitschrift Spex – veröffentlichter Texte, eine Art Greatest-Hits-Revue 1982-1991 (die der Spiegel wundersamerweise just in einer milden Entdeckungsrezension gewürdigt hat). „Plötzlich waren neun Jahre vergangen, im nachhinein ein ganz schönes Stück Zeit“, grübelt der Autor, und wirklich läßt sich an „Kronos“ schön studieren, wie Goetz seine Schreibweise entwickelt, wie er vorprescht, austeilt, die Stellung wechselt, wie er durch Freundschaft und Intimfeindschaft mit führenden Geistern der Republik allmählich zu Super-Goetz wird, gefürchtet in den Redaktionsstuben der Macht, geliebt aber draußen im Lande. Doch es ist nicht nur der Retro- Charakter von „Kronos“, der quersteht zur vormaligen Geste bedingungsloser Aktualität, es herrscht vom Ende her gesehen auch Nachdenklichkeit über die eigene Rolle als Berserker vom Dienst: „man grölt sauber rum, nennt Deppen wahrheitsgemäß Deppen, und merkt vor lauter Wahrheit nicht, daß durch die Jahre, die vergehen, alle Witze nicht mehr stimmen.“

Nix Neues: Am Ende sehen selbst die Jüngsten, die Zornigsten alt aus, weil sie noch im Widerspruch bestätigen, wogegen sie anrennen. Nur logisch also, daß es ein steinalter Mann ist, der in „Katarakt“, einem der drei Theaterstücke, die „Festung“ auch enthält, Schwervergrübeltes absondert: „ich glaube schon daß jeder lieber alles verstehen würde als nicht es tut ja mehr weh wenn man es nicht versteht weil man zu starr und fest raussteht oder zu zu ist oder zu hart“ usw. usf. „Katarakt“ ist ein Monolog, eine endlose, zerquälte Reflexion über das Verstehen und das Vergessen, über Sex und Ariel, Kunst und Käse, über den Staat, den Müll, den Tod, „überhaupt die ganze sogenannte Gesellschaft wie alles so zusammenhängt“.

Witzig ist das tatsächlich nicht mehr. Zäh hat sich die Aggression in ihren Gegenpart, die Schwermut vergraben, ein allenfalls unfreiwillig komisches faustisches „Habe nun, ach“. In „Katarakt“ ist ein Schriftsteller auf der Flucht vor der Pointe, dem Kraftakt als Zugeständnis an die Publikumserwartung, und dafür nimmt er sogar in Kauf, daß sein verbissener Ernst gelegentlich den Kitsch touchiert. Wenn also auch „Katarakt“ eine Enttäuschung ist, so als Konsequenz einer Erfolgsstory: Goetz portraitiert sich mit großem Pathos als 39jährigen dirty old man der mitteljungen deutschen Literatur. Seine Melancholie ist die Kehrseite des Gelingens, sein Hermetismus der ästhetische Reflex auf den unlösbaren Widerspruch der Avantgarde, auch der selbsternannten: daß der Schreiber mit jeder Art von Form am Ende doch wieder den Betrieb bedient.

„Na! Was! Wie! Nu! Ich bin hier der Alte. Ich schaffe hier an. Ho ho ho“ – auch durch die anderen beiden Stücke, „Kritik in Festung“ und das titelgebende „Festung“, irrt der seltsame Alte als tragikomisches Gespenst der radikalen Gesellschaftskritik, als ewiger Avantgardist. Er ist hier aber nur noch eine von vielen Stimmen, die mitmurmeln im großen Verbund der öffentlichen Rede. „Festung“, das Theaterstück, schwenkt vom Monolog zum Polylog, seine Vielstimmigkeit versteht sich als Abbild eines Amüsements zum Tode, als „Kommunikation über Vernichtung“.

„Tach Berlin, Hallo Hamburch, Servus München“: Goetz zögert nicht, das selbstvergessene Geplauder, mit dem all die Hape Kerkelings, Katja Ebsteins und selbst Wolfgang Pohrts dieser Welt den großen Infotainment-Pool tagtäglich füllen, ganz plakativ gegen die Rampe von Auschwitz zu setzen. Ein „Mnemopath“ beschwört sie im Stück wortreich herauf: Stiefel marschieren, Schäferhunde bellen, und „oben auf der Empore stand schlohweiß die deutsche Schuld im Morgenmantel an der Balustrade ...“

Womit aufs Kontrastreichste reklamiert wäre: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Daß Goetz dem Betroffenheitskitsch einer theaterdonnernden, unverbindlich gewordenen Bewältigungskultur mit solchen Bildern gefährlich nahe kommt, stört ihn offenbar so wenig wie die Tatsache, daß das dumpfe Ressentiment gegen die Talk-Show längst selbst zum Essential durchaus biederen Kulturräsonnements verkommen ist. Goetz versucht eben, die kulturkritischen Topoi durch einen Aufruhr der Stimmen zu überbieten. Ganz im Pathos eines Schreibens befangen, das mehr sein will als beflissenes Produzieren von Buchstaben, möchte er noch einmal vorführen, über welchem Abgrund sich der – nunmehr gesamtdeutsche – Alltag aufrichtet.

Und sabotiert gerade dadurch das Schreiben selbst. „Festung“, das Theaterstück, wird von keiner Struktur, keiner Dramaturgie mehr zusammengehalten, weil die Struktur immer schon im Komplott mit der Wirklichkeit wäre. Witzischkeit kennt eben keine Grenzen: Wenn alles goutierbar geworden ist, hilft vielleicht nur noch die Unform, die Zumutung, der Stimmenbrei – eine Frequenzüberlagerung, in der Ernst und Unernst am Ende gleiche Wellenlänge haben. Goetz hat mit seinen Theaterstücken, die im letzten Jahr mit großem Trara aufgeführt wurden, tatsächlich einen ziemlich unverdaulichen Mix angerührt – genützt hat's nix: zumindest für „Katarakt“ hat er auch schon wieder einen Preis gekriegt. Natürlich war auch das absehbar, und wohl deswegen hat „Festung“ als Ganzes, das Über-Ding, das Buch der Bücher (das zugleich keines mehr sein will), einfach sein müssen. In „1989“, das die restlichen drei der fünf „Festung“-Bände einnimmt, treibt der Autor als Avantgardist das Reden in fremden Zungen auf eine Spitze, die kaum mehr zu überbieten sein wird. „1989“ ist das ambitionierteste Stück Literatur aus Goetzischer Hand – und betreibt zugleich Goetz' Selbstabschaffung als Autor.

Das Prinzip ist einfach: „Taping it all“ lautet das von Warhol entlehnte Motto, das dem Textkonvolut vorangestellt ist. Goetz hat sich in seine Schreibzelle gehockt und – „schreib schreib schreib paß auf paß auf“ – das Fernsehen kontrolliert, wie es im Jahr 1989, dem Jahr des Mauerfalls, in alle deutschen Haushalte ausgestrahlt wurde. Das vordergründige Ergebnis: eine haltlose, bloß chronologisch geordnete Folge von cut ups, hektisch mitprotokolliert in durchnumerierten Kladden, unterbrochen nur von seltenen Einschüben, die Hinweis geben auf das poetologische Konzept dieser obsessiven Lebensmitschrift – oder sich zumindest als solche lesen lassen. Die Satzform hat der Beobachtungsstrom dabei längst hinter sich gelassen: „in einer Welt, die so unscharf ist, kann man keine Sätze mehr bilden“.

Unschärfe und Geschwindigkeit der medial vermittelten Wirklichkeit machen das Protokoll erst zur rekonstruktiven Leistung. „Wahrheit ist Arbeit wie es wirklich war“, heißt es zwischen zwei Fernseh-Spots. Präziser noch faßt es ein Zitat von Rolf Dieter Brinkmann, das Goetz unausgewiesen in die Stimmenflut hineingeschmuggelt hat: „ich muß diese Kulisse meines Lebens genau rekonstruieren den totalen Schrecken und dann die Verführung“. Wie Brinkmann faßt auch Goetz die Welt der medialen Stimmen als subjekt- und geschichtsfeindlichen Obszönitätszusammenhang, dem er, der unkorrumpierbare Zeuge seiner Zeit, unermüdlich schreibend die Beweisaufnahme entgegensetzt.

Das klingt nun äußerst pathetisch, macht aber nur Ernst mit einer Konsequenz der Ästhetik im Alltag: Wenn das gesellschaftliche Reden längst nicht mehr nur „Literatur“ ist, wenn es über alle Ufer getreten ist, darf auch ein Buch nicht einfach mehr Buch nur sein; es muß einer Wirklichkeit gerecht werden können, in der das Faktum frei flottierende Information geworden ist, es muß die Knoten aufsuchen, in denen ein undefinierbar gewordenes Wissen kulminiert. Und also ist das Un-Buch „1989“ ein taping against the machine, also kehrt alles in schöner Wirrnis wieder: das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens, der Gorbi-Besuch in Deutschland, das Gladbecker Geiseldrama, die Währungsreform, Tiersendungen, Wissenschaft, Sport – die ganze Belegschaft des Medien-Zapping von Auge Augenthaler bis Xaver Unsinn.

Wer will, kann daraus seine Schlüsse ziehen, kann etwa eine Genese des neovölkischen Diskurses aus dem Geist des Fernsehkommentars heraushören („Das ist der Ruf dieses Jahrhunderts Wir sind das Volk etwas Größeres gibt es nicht“); er kann Beziehungen herstellen zwischen Konjunktur und Wetterbericht („Moskau heiter vierundzwanzig Grad“) oder in der Gorbi-Glasnost-Berichterstattung das mitleidige Lächeln des Siegers heraushören („Ja da freut er sich der Michail Gorbatschow“); er muß aber nicht, und er tut es in jedem Fall auf eigene Faust. Goetz selber hält sich mit Kommentaren zurück, weigert er sich doch in letzter Instanz, das wahllos Aufgezeichnete zu verstehen.

Verstehen hieße ja, Kontexte herzustellen, Bezüge zu konstruieren – und damit dem Gesagten etwas von der Wahnhaftigkeit und Unmittelbarkeit zu nehmen, die die krude Rede noch an sich hat. Nur das Protokoll, das wie ein Tonband funktioniert, blockiert wirksam die Erzeugung von Sinn (und beweist ex negativo, welche Kulturleistung nötig ist, um den Medienwahn-Sinn Tag für Tag zu einem halbwegs funktionierenden Verstehensfluß zu kanalisieren). In „1989“ radikalisiert Goetz eine Technik, die Hubert Winkels schon für den ersten Teil von „Irre“ nachgewiesen hat: Das kommentierende Subjekt entfernt sich. Es ist, als würden bloß noch Türen aufgerissen, aus denen herrenlose Rede quillt. Daran ändert auch nichts, daß das Prinzip, Textpartikel an Textpartikel zu reihen, mit der Idee des Sampling liebäugelt: Wie beim Recyceln von Sound-Segmenten in der Popmusik soll offenbar etwas hörbar werden, das in den Ursprungskontexten latent blieb, vielleicht eine Art Todes-Tekkno, eine Melodie der Verhältnisse, die schlimme Untertöne mit sich führt. Dumm nur, daß Goetz sich dabei so weit dem Materialcharakter ergibt, daß außer den scheuen Epiphanien des Medienalltags selbst kein ästhetisches Inkrement dabei herausspringt. Es bleibt bei der teilnahmslosen Mitschrift.

Und das heißt natürlich auch, daß die letzten Reste von Talent, Witz, Sprachwillen und Polemik mit ausgelöscht werden, für die der Name Goetz neun Jahre lang einstand. „Man ist weit entfernt vom früheren Glanz von der lodernden Schreibweise von ehedem“, heißt es irgendwo in der Textwüste, und fast will es scheinen, als würde den verschwundenen Autor das freuen. Überflüssig, noch extra zu betonen, daß „1989“ über weite Strecken ein langweiliges, ein wirklich ödes Buch ist: So öd wie ein Jahr selbstverordnetes Fernsehen eben ausfällt. Klappe zu, Absicht gelungen, Autor tot – man sollte Goetz den Gefallen tun und ihn dieses Mal mit einem Preis verschonen.

Rainald Goetz: „Festung“.

5 Bände. Suhrkamp Verlag 1993, 2.296 Seiten, zusammen 86 DM.