Die heilige Hillary

Das sich wandelnde Image der Hillary Rodham Clinton: Radikalfeministin, Karrierefrau, Politikerin, Moralistin und Tugendwächterin  ■ Von Martina Sprengel

Sie hat sich viel vorgenommen. Hillary Rodham Clinton, seit dem 20. Januar 1993 First Lady im Weißen Haus, will der amerikanischen Politik wieder einen tieferen Sinn geben, will Konservative und Liberale miteinander versöhnen, kurz, sie will die US-Gesellschaft reformieren. Noch hat sie sie allerdings nicht gefunden, jene allumfassende Theorie, die die knapp 240 Millionen US-Amerikaner aus der Sinnkrise führen soll. Daß Hillary sich nicht mit der traditionellen Rolle der Präsidentengattin zufriedengeben würde, war jedem klar, der im letzten November ihrem Mann Bill die Stimme gab. Deshalb überraschte es auch niemanden, als sie sich in Bills Auftrag der Reform des maroden US-Gesundheitswesens annahm. Daß sie sich nun aber aufmacht, den Amerikanern die Welt neu zu erklären und ihnen neue Leitlinien an die Hand zu geben, entbehrt nicht einer gewissen Lächerlichkeit.

„Saint Hillary“, die heilige Hillary, überschrieb das Magazin der New York Times kürzlich einen Artikel über die 45jährige und meinte das gar nicht mal ironisch. Nicht zum ersten Mal gestand die First Lady, schon ihr ganzes Leben lang ein „brennendes Bedürfnis“ zu haben, die „Welt zu verbessern“. In einem ihrer ersten Interviews nach dem Einzug ins Weiße Haus hatte sie bereits im April dem Parade Magazine, einer viel gelesenen Wochenendbeilage, gesteckt, daß sie sich schon immer zum „Dienst am anderen“ verpflichtet gefühlt habe. „Ich habe immer geglaubt, daß ich eine Verpflichtung habe, mich um andere Leute zu kümmern, ihnen zu helfen, weil ich mit Gesundheit sowie einer starken und unterstützenden Familie gesegnet war.“ Basis dieser Überzeugung ist – so wissen die Amerikaner mittlerweile – Hillarys starker religiöser Glaube.

Linda Bloodworth, Filmproduzentin und Freundin: „Sie ist eine spirituelle Persönlichkeit, und noble Ideen treiben sie an. Sie hat immer versucht, sich selbst zu verbessern.“

Während des Präsidentschaftswahlkampfes im vergangenen Jahr war Hillary Rodham Clinton noch der Inbegriff der machtgeilen Karrierefrau und linksradikalen Feministin. Es kursierten Gerüchte, sie würde ihren Mann verlassen, wenn er die Wahl nicht gewinnen sollte. Seitdem sie in die Rolle der First Lady geschlüpft ist, mutiert sie für die amerikanische Öffentlichkeit mehr und mehr zur Heiligen. Ihre PR-Crew, die Familie und Freunde lassen keine Gelegenheit aus, vor allem jene Qualitäten zu loben, die man mit ihr bisher am wenigsten verbunden hätte. Sie ist eben nicht nur die erstklassige Juristin und ihrem Mann die beste Beraterin, sie ist auch die perfekte Mutter, Ehefrau und Freundin. Vor allem aber ist Hillary eine tief religiöse Frau, die all ihre Energie und ihre Leitbilder aus ihrem Glauben zieht. Das ist die Botschaft, die den amerikanischen Lesern durch geschickt plazierte Interviews und Auftritte seit mehreren Wochen eingeimpft wird.

Susan Fleming, Freundin aus Little Rock: „Ihr Glaube ist ein wirklich immanenter Bestandteil ihres Lebens und hilft ihr in schweren Zeiten. Ihre Motivation für ihr Handeln entspringt einem wirklichen Herzensbedürfnis, Menschen zu helfen und Dinge besser zu machen. Und viel von dem wurzelt in ihrem religiösen Glauben.“

Am 6. April, einen Tag bevor ihr Vater starb, ließ Hillary erstmals aufhorchen. In einer Rede in Austin, Texas, schlug sie ungewöhnlich nachdenkliche Töne an. Amerika leide unter einer „Schlafkrankheit der Seele“, sei gelähmt durch „Entfremdung, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit“. Das Land brauche eine Neubestimmung dessen, was es an der Wende zum nächsten Jahrtausend „heißt, ein menschliches Wesen zu sein“. Nicht nur das Politmagazin New Republic stutzte und fragte sich, was Hillary damit wieder meine.

So genau weiß die First Lady das allerdings selbst noch nicht, wie sie Michael Kelly von der New York Times verriet. Das hält sie nicht davon ab, öffentlich zu philosophieren. Michael Lerner, Herausgeber des jüdischen Politmagazins Tikkun und von bösen Zungen als Hillarys Guru gehandelt, hilft ihr dabei. Lerner prägte den von Hillary so gerne gebrauchten Begriff der „politics of meaning“, der Bedeutungs- oder Sinnpolitik, die dem Land fehle. Damit will er eine Gesellschaft aufbauen, „die auf Liebe und Miteinander basiert und in der nicht Profit und Macht das Entscheidende sind, sondern ethische und spirituelle Empfindsamkeit sowie ein Sinn von Gemeinsamkeit, gegenseitiger Sorge und Verantwortung“. Bei einem Treffen im Weißen Haus, so Lerner, sei er sich mit der First Lady einig gewesen, daß es im wesentlichen darum gehe, die Summe der ethischen Ideen der Bibel auf die heutige Zeit anzuwenden. Lerners Vorschlag, künftig jedes Gesetz oder Regierungsprogramm durch eine entsprechende Kommission auf seinen ethischen Gehalt zu prüfen, wurde zwar wohlwollend aufgenommen, mit Blick auf die bodenständige Presse allerdings zur Überarbeitung empfohlen. Lerner rede im Zusammenhang mit Regierungspolitik zuviel von „sich sorgen, Anteil nehmen und Liebe“.

Die Offenbarung der Hillary Clinton war gekoppelt mit ihrem Bekenntnis zu traditionellen Werten. „Ich bin eine Konservative im wahren Sinn des Wortes, nicht in dem oft gebrauchten radikalen, ideologischen, zerstörenden Sinn“, beichtet sie im Parade Magazine. Nicht Regierungsprogramme, sondern persönliche Verantwortung sei der Schlüssel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. „Ohne daß wir von den Leuten mehr Verantwortlichkeit verlangen, werden wir bei den ernsthaften Problemen – wie zerfallenden Familien, Kriminalität und Drogen – nicht die Kurve kriegen.“ Als ob der ehemalige Vizepräsident Dan Quayle ihr die Stichworte ins Ohr geflüstert habe, predigt Hillary „Selbstdisziplin und das Einhalten von Spielregeln“.

Im Wahlkampf 1992 war Hillary Clinton für die konservativen Wähler ein rotes Tuch gewesen. Das hatte nicht nur mit der erfolgreichen Anti-Hillary-Kampagne der Republikaner zu tun, die sie zur Radikalfeministin abstempelten. Hillary hatte selbst ihren Teil dazu beigetragen. Sie und ihr Mann hatten keinen Hehl daraus gemacht, daß sie als politisches Team nach Washington gehen wollten. Sie hatte nicht nur dann Bills Reden gehalten, wenn ihm die Stimme versagte; sie war von seinen Strategen als eigenständige Wahlkämpferin eingesetzt worden. Wem Hillarys Selbstbewußtsein damals schon ein Dorn im Auge gewesen war, der wandte sich völlig von ihr ab, als sie sich im März 1992 den berühmten Plätzchen-Patzer leistete. Danach befragt, ob ihr Mann als Gouverneur von Arkansas möglicherweise Gelder durch ihre Anwaltskanzlei geschleust habe, hatte sie sichtlich empört entgegnet: „Ich hätte auch zu Hause bleiben, Plätzchen backen und Tee reichen können. Aber ich entschied mich statt dessen für eine eigene professionelle Karriere.“ Eine Woche später hatte William Safire in der New York Times vom „Hillary-Problem“ geschrieben. Wenn sie nicht bald in den Hintergrund trete, werde ihr Mann all seine Wahlchancen verspielen. Hillarys Stern war gesunken, von anfänglich 65 Prozent fanden sie jetzt nur noch 30 Prozent der Wähler sympathisch.

Im April hatten Clintons Berater ein Strategiepapier präsentiert, in dem sie Hillary mehr öffentliche Auftritte mit der Familie und mit Freundinnen verordneten. So wollte man unter anderem dem Eindruck entgegenwirken, sie kandidiere selbst. In der Tat veränderte sie ihren Ton. Aus „Wir wollen nach der Wahl dies und jenes tun“ wurde in ihren Reden ein der Gattin angemesseneres „Mein Ehemann will“. Bill vermied künftig jeden Hinweis darauf, daß er seine Frau in irgendeiner Form an der Regierung in Washington beteiligen wolle. Hillary selbst versprach, sich im Weißen Haus allein für die Belange der Kinder einsetzen zu wollen.

Betsey Wright, rechte Hand Bill Clintons in Arkansas: „Hillary wird nie versuchen, der Präsident zu sein. Sie wird ihm helfen, seinen Job so gut wie möglich zu machen und so wie er will. Sie wird ihm Empfehlungen geben, wie er bestimmte Dinge tun sollte oder was er tun sollte. Aber sobald sie ihre Empfehlung abgegeben hat, zieht sie sich zurück. Es ist seine Entscheidung.“

Mit dem Wahlsieg und dem Einzug ins Weiße Haus kehrte Hillary wieder zu ihrem alten Selbst zurück. Aus Hillary Clinton wurde Hillary Rodham Clinton. Und wie selbstverständlich übernahm sie mit der Erneuerung des Gesundheitswesens das nach der Wirtschaftsreform zweitwichtigste Vorhaben der Clinton-Administration. Während sie nach einer kurzen Episode als Ehefrau des Kandidaten Bill Clinton wieder als eigenständige Person ersteht, enthüllt sie gleichzeitig ihr vermeintlich konservatives Image. Hillary macht es den Rechten im Land damit leichter, sie als neue First Lady zu akzeptieren. Auch dann, wenn sie durch den aktiven Part in der Präsidentschaft ihres Mannes im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen aus der Rolle fällt.

Linda Bloodworth: „Hillary verkörpert viele Dinge. Sie ist eine arbeitende Mutter. Sie kann eine hart arbeitende Karrierefrau sein, aber sie kümmert sich auch sehr um andere, ist sehr, sehr liebevoll zu ihrer Familie und ihren Freunden, sehr, sehr weichherzig, witzig, hat viel Sinn für Humor, sie hat viele wunderbare Eigenschaften, die man nicht sofort erkennt.“

Hillary leistet außerdem wertvolle Parteiarbeit. Indem sie Religiosität als eine ihrer Triebfedern thematisiert und Werten wie Familie, Ordnung und Disziplin eine bedeutende Stellung einräumt, gewinnt sie für die Demokraten Bereiche zurück, die in den letzten Jahren den Republikanern reserviert waren. Reagan und Bush haben sich auch deshalb gegen ihre demokratischen Konkurrenten durchsetzen können, weil sie sich erfolgreich als Garanten für die guten alten amerikanischen Werte – Familie, Arbeit, Nachbarschaft, Frieden und Freiheit – verkauften. In den Augen der meisten US- WählerInnen waren die Demokraten dank der republikanischen Propaganda lange die Repräsentanten von sogenannten Randgruppen, wie Frauen, Schwulen, Lesben und Schwarzen. Der durchschnittliche weiße US-Amerikaner durfte danach nicht auf ihre Unterstützung hoffen. Wenn Hillary jetzt von Tugend, persönlicher Verantwortung und davon redet, „höheren Zielen verbunden“ zu sein, klingt das ganz so, als sei sie bei Reagan und Bush in die Lehre gegangen. Die Familie, sagt sie, sei das Wichtigste im Leben. Und vernachlässigen dürfe man sie nur, wenn man Glauben oder Land verteidigen müsse. Ihr wird nachgesagt, eine rührende Mutter zu sein. Mehrfach wurde in der amerikanischen Presse die Geschichte kolportiert, wie Hillary der kranken Tochter Chelsea eigenhändig in der Küche des Weißen Hauses gegen den Protest des Personals ein Omelett bereitete.

Damit nicht genug, versucht Hillary mit einem weiteren Klischee über die Demokraten aufzuräumen. Jenem, daß sie beim Versuch, gesellschaftliche Probleme zu lösen, allein auf umfangreiche Regierungsprogramme setzten. Die neue First Lady insistiert ganz im republikanischen Geiste auf der Verantwortung des einzelnen für Wohl und Weh der Gemeinschaft. „Es amüsiert mich, wenn Leute glauben, ich sei für großangelegte Regierungsprogramme, weil ich das nicht bin. Ich bin für soviel dezentrale, lokale, individuelle Verantwortlichkeit wie möglich.“

Hillary wechselt mal wieder ihr Image. Diesmal von politisch progressiv zu konservativ. 1980 in Arkansas war es vor allem eine äußerliche Veränderung, mit der sie auf die Wahlniederlage ihres Mannes reagierte. Aus der grauen Maus wurde die strahlende First Lady, die Arkansas während der ersten Amtszeit Bills vergeblich eingeklagt hatte. 1992 reagierte sie auf die Vorwürfe, ihren Mann zu überschatten, mit dem kurzfristigen Wandel von der politischen Partnerin zur bewundernden Ehegattin und Wahlhelferin. Alle Korrekturen waren strategisch wohlüberlegt und haben ihre Wirkung nicht verfehlt. 1982 wurden sie mit einer zweiten Amtszeit in Little Rock belohnt, zehn Jahre später mit der wiedergewonnenen Sympathie der Wähler. Und jetzt sorgt Hillary für konservativen Ersatz für die Verluste bei den eher linken Wählern, die sich schon nach wenigen Monaten enttäuscht von Clinton abgewendet haben.