■ Der Rassismus-Vorwurf gegen „die Deutschen“
: Im europäischen Biergarten

In seinem Spiegel-Essay (23/93) plädiert Rudolf Augstein für eine Integration der Türken, die es ihnen verwehrt, die Doppelstaatsangehörigkeit in Anspruch zu nehmen. Sein bornierter Grundton, sein Eurozentrismus, die peinlich unangemessene Überheblichkeit, mit der er die Differenz zwichen der internationalen Prominenz der deutschen Kultur und der der Minderheiten hervorhebt, verdienen scharfe Kritik. Die unerschütterliche Überzeugung Augsteins, daß er (gleich Deutschland) dem europäischen Kulturkreis angehört, ist wirklich rührend. Noch vor 45 Jahren waren sich einige bedeutende deutsche Geister dessen nicht so sicher. Alfred Döblin schrieb 1946: „Werden die Deutschen, so fürchterlich belehrt, die guten, notwendigen und heilsamen Konsequenzen ziehen, die uns zu wirklichen Deutschen, das heißt zu Europäern machen?“ Die Antwort auf diese Frage bleibt uns Gott sei Dank deshalb erspart, weil der Begriff „Europäer“ immer mehr verschwimmt. Klar ist hingegen, daß Augstein deutsch-konservative Vorstellungen kultiviert und mit der Idee der Integration und des Multikulturalismus nichts anzufangen weiß. Dennoch ist es falsch, ihm deshalb Rassismus vorzuwerfen.

In seinem Aufsatz „Der europäische Kulturgarten“ (taz vom 16.6.93), der Augsteins Essay kritisiert, schreibt Ömer Erzeren: „Der Rassismus ist die herrschende Ideologie in Deutschland“, und er bescheinigte dem Herausgeber des Spiegel, „den Grundkonsens des deutschen Rassismus zu formulieren“. Bestimmt ist es nicht leicht, im Deutschland dieser Tage die Nerven zu behalten, besonders wenn man Ausländer ist. Noch komplizierter ist es, den Kopf nicht zu verlieren. Ömer Erzerens Aufsatz bietet ein Beispiel, wie man beiden Gefahren gleichzeitig erliegen kann. Seine Reaktion ist auf falsche Weise radikal und führt im Ergebnis zu nihilistischen Konsequenzen. Erzerens Haltung ist im Licht der letzten Ereignisse psychologisch verständlich. Sie zieht aber denjenigen den Boden unter den Füßen weg, die bei aller Kritik zum Dialog mit den Deutschen bereit sind. Wenn die Deutschen nur als Rassisten wahrgenommen werden, bleibt den Türken tatsächlich nichts anderes übrig, als zu verschwinden. Da aber viele bleiben wollen, ist es für sie und noch mehr für ihre intellektuellen Vertreter notwendig, etwas differenzierter zu urteilen.

Ömer Erzeren glaubt, man könne über die historische Spekulation zur Wahrheit kommen und daraus die Legitimation für gegenwärtige politische Positionen ableiten. Er erklärt die Morde und Brandanschläge in Deutschland auf dem Hintergrund der „christlich-abendländischen Zivilisationsgeschichte, die, ganz im Gegensatz zu dem islamischen Kulturgarten, die Geschichte des Rassismus (ist)“. Was für ein fataler Fehler in der Zeit des schrecklichen und beschämenden Balkankrieges, wo alle Parteien die Berechtigung ihres Handels aus der Geschichte ableiten! Es gibt keine „Geschichte“, nur deren Interpretation – und die dient oft genug als Instrument der Machtpolitik. Probleme der Gegenwart können nicht durch Rekurs auf die Geschichte, durch historische Argumente, gelöst werden, sondern nur mittels eines pragmatischen Vorgehens, das sich auf die Analyse der gegenwärtigen Situation stützt. Wie die Alternative, die Lösung von Konflikten mit Hilfe der Geschichte aussieht, kann gegenwärtig in Jugoslawien studiert werden.

Die europäische Kultur, so Erzeren, war und ist blutig. Sie hat die osmanische Kultur mit dem Nationalismus verseucht und es dahin gebracht, daß der erste moderne Genozid der Neuzeit von Türken organisiert wurde. Zu viel Ehre für die europäische Kultur. Alle „Kulturkreise“ haben ihren eigenen Motor der Entwicklung, sie haben ihre eigene Geschichte zu verantworten. Die fatale Dynamik von Aufbau und Zerstörung ist nicht auf die europäische Geschichte beschränkt. Es fällt mir schwer, von einem Türken, der so stolz auf die alten Traditionen der Toleranz in seinem Kulturkreis ist, Beschuldigungen an die deutsche Adresse wegen des Holocaust anzuhören. Bis heute ist in der Türkei der Genozid an den Armeniern nicht als historische Tatsache anerkannt, und seine Geschichte ist nicht aufgearbeitet. Mehr noch: Man kann als Türke oder Türkin den Deutschen nicht Rassismus vorwerfen, ohne gleichzeitig an das Schicksal der Kurden zu denken. Mir ist bekannt, daß in der Türkei Literatur über den Genozid an den Armeniern verboten ist, daß die Kurden verfolgt, oft genug auch gefoltert werden. Daß sie mit Hilfe von Waffen aus Deutschland gejagt werden. Das alles macht es mir schwer, so einseitig wie Erzeren zu urteilen, auch was die Frage der Demokratie anlangt.

Die Türkei mag auf dem Weg zur Demokratie sein. Aber in Deutschland verfolgt der Staat keine Minderheiten. Er hat sich im Gegenteil mit seiner bis vor kurzem liberalen Politik jene Probleme geschaffen, die jetzt die Regierungskoalition auf so unglückliche Weise löst. Jede ernstzunehmende Kritik an den deutschen Mißständen setzt die Bereitschaft zur Selbstkritik voraus. Zu oft werden beispielsweise Juden für alle möglichen Interessen instrumentalisiert. Der Mißbrauch des Holocaust-Vorwurfs spielt besonders dort eine unheilvolle Rolle, wo die Unterschiede in der historischen Situation nicht wahrgenommen werden wollen. Erzeren schreibt, „Tod oder Assimilation war schon immer Euer Schlachtruf“, und er zieht eine gerade Linie vom Massaker der Kreuzritter über den Holocaust bis zu Augstein, dem er den Ausruf unterstellt: „Ein kleiner Teil von Euch darf Deutscher werden. Hinweg mit den anderen.“ Muß Erzeren tatsächlich daran erinnert werden, daß die Juden im „Dritten Reich“ zum größeren Teil überhaupt keine Option hatten, daß die Frage „Tod oder Assimilation?“ sich für sie nicht stellte. Eine Position wie die von Rudolf Augstein hat mit der der „Endlösung“ nichts gemein. Er ist gegen die Doppelstaatsangehörigkeit. Wer nicht (ausschließlich) deutscher Staatsbürger werden will, bleibt in seinen politischen Rechten eingeschränkt.

Aber er kann bleiben.

Die Art und Weise, wie von Augstein die deutsch-konservative Position und von Erzeren deren Kritik zum Ausdruck gebracht wurde, legt die Vermutung nahe, daß hier Kulturgärten mit Biergärten verwechselt werden. Noch einmal: Augstein muß kritisiert werden, aber eine Kritik wie die von Erzeren ist selbstvernichtend. Sie läßt keinen Raum für den Dialog, sie verhindert, daß sich die positiven Faktoren im Verhältnis zur türkischen Minderheit entwickeln. Während der Nazi-Herrschaft haben in Berlin 15.000 Juden überlebt. Auch damals waren nicht alle Antisemiten. An solche Menschen, die sich unter keinen Umständen durch Vorurteile oder Ressentiments verleiten liessen, lohnt es sich zu erinnern. Wenn alle Rassisten sind, ist jedes unserer Worte überflüssig. Dann nimmt man die Waffe und schießt entweder auf andere oder sich selbst. Aber wir haben doch vor, zu leben! Sonja Margolina

lebt und arbeitet als Autorin in Berlin.