"Optimale Behandlung ist nicht möglich"

■ Die Priorität des Gesundheitsystems ist eine schnelle Heilung egal mit welchen Mitteln. Für Schwestern und Ärzte ist die Arbeitsbelastung auf Station heute höher denn je. Trotzdem geht der Abbau...

auf Station heute höher denn je. Trotzdem geht der Abbau von Personal weiter. Ein Bericht aus dem Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Harburg

„Happy birthday to you“, singen die Schwestern der Station 51A im Krankenhaus Hamburg-Harburg und tragen dem Patienten, der an diesem Tag 50 Jahre alt wird, sein Frühstück in den Aufenthaltsraum. Dekoriert ist das Tablett mit einer Kerze und einer Apfelsine auf Streichholzbeinen, Ringelschwanz. Im eingeschnittenen Mund hält das selbstgebastelte Glücksschwein einen Pfennig. Die Feier dauert nur eine Minute, denn der Stationsalltag erlaubt keine längeren Unterbrechungen.

Es ist acht Uhr. Die Schwestern der Frühschicht haben bereits vor zwei Stunden ihre Arbeit begonnen — Patienten geweckt und gewaschen. Jetzt bereiten sie Medikamente vor und ergänzen die Pflegedokumentationen, Akten, die für jeden Patienten angelegt werden.

Das Schwesternzimmer der Station 51A, Abteilung für innere Medizin, ist eng. „Wer hier etwas zu tun hat, steht einer anderen im Weg“, sagt Schwester Christiane. Jeder Zentimeter wird ausgenutzt: Neben dem Waschbecken auf einer Arbeitsplatte stehen die weißen Pappbecher mit den Medikamenten und Proben für das Labor. An der Wand darüber hängen kleine Schränke mit Schubladen voller Spritzen und Pflaster. Gegenüber steht ein neonbeleuchteter Schreibtisch, dort werden die Akten, „Klatschen“, wie die Schwestern sagen, bearbeitet. In einem großen Schrank mit Schiebetüren lagern die Medikamente.

„Ärzte haben immer weniger Rückgrat“

Reiter werden an die Klatschen gesetzt, „damit wir wissen, was noch zu machen ist“, erklärt Schwester Friederike, während sie aus einer langen Reihe einen Stempel nimmt, ihn auf ein Formular drückt und dazu etwas einträgt. Dann steckt sie mit dem Kugelschreiber den Reiter zurück. „Bis zur Visite erledigt.“ Die Schwestern führen auf der Station 24 Akten - für 24 Patienten.

Früher galten Krankenschwestern als „Ärztliches Hilfsheilmittel“. Heute hat sich ihr Berufsbild geändert. „Die Ärzte haben immer weniger Rückgrat“, sagt eine der Schwestern. „Sie können sich ihre Machtlosigkeit gegenüber dem Tod oft nicht eingestehen.“ Mit dem Autoritätsverlust der Ärzte steigt das Ansehen der Schwestern bei den Patienten. Zu ihnen haben die kranken Menschen meistens mehr Vertrauen als zu den akademischen „Weißkitteln“, die in unverständlichen Worten über ihren Fall reden. „Hier laufen so viele Ärzte herum, da weiß der eine nicht, was der andere verschreibt“, sagen die Schwestern. Aber auch: „Die Pa-

1tienten fragen zu wenig. Sie machen erst wieder den Mund auf, wenn der Arzt weg ist.“

Überhaupt ist es manchmal schwierig mit den Patienten. Um neun Uhr, in der Frühstückspause, haben die Schwestern ein wenig Zeit zum Erzählen. „Einer hat sich beschwert, weil er angeblich nicht gepflegt würde und kein Essen bekäme.“ Schwester Christiane meint: „An viele muß man vorsichtig herangehen, sonst bekommt man leicht eine flapsige Antwort.“ Ein Patient hätte immer in der Frühstückspause geklingelt, obwohl er genau wußte, „daß wir auch mal Ruhe brauchen“. Und in einem sind sich alle einig: „Fast alle Patienten geben sich hier ab und möchten schnell gesund gemacht werden.“ Mitdenken und für ihre Krankheit Verantwortung zu übernehmen sei den meisten zu anstrengend.

Neuerdings werden die Patienten in Pflegestufen eingeteilt. Es gibt zwei Gruppen von Patienten: Die A-Gruppe erhält die normalen Pflegeleistungen, bis hin zur „überwiegenden Übernahme der Körperpflege“. Wer in die S-Gruppe eingestuft wird, dem geht es besonders schlecht. Denn hierunter fallen Pflegeleistungen, die einen großen Aufwand erfordern. Jede Pflegeleistung muß in Tabellen festgehalten werden. Sinn dieser zusätzlichen Dokumentation: Die Krankenkassen rechnen den Pflegeaufwand in Arbeitsminuten um. Daraus ergibt sich in Zukunft der erforderliche Personalbestand der Krankenhäuser. Gerüchten zufolge soll aufgrund der Erhebungen in einigen Krankenhäusern schon Personal eingespart worden sein. „Auf dem Papier wird der Pflegenotstand beseitigt“, sagen die Schwestern, „doch es gibt nicht weniger Patienten. Jede von uns muß heute mehr arbeiten als noch vor zehn Jahren — auf Kosten der Kranken.“

Zehn Uhr in der Aufnahme. Hier kommen die Patienten an und werden auf die Stationen verteilt. Es ist ein ruhiger Tag - die Zimmer sind zwar voll belegt, aber auf dem Flur stehen keine Notbetten. Schwestern und Ärzte bereiten die Krankenakten vor.

Chefarztvisite. „Acht Leute beschäftige ich noch mit meinem bißchen Leben“, stöhnt eine alte Frau, während sie von Professor Georg Hoppe-Seyler, dem Chef der Station 51A, begutachtet wird. Der aufnehmende Arzt referiert: Diabetis Mellitus. Die „süße“ Krankheit, hat ihren Namen noch aus den Anfangszeiten der Medizin — damals wurde der Urin zur Probe abgeschmeckt. Dann stehen die Ärzte vor dem Bett eines rußverschmierten Italieners. Er hat jahrelang mit einem undichten Kohleofen geheizt. „Verdacht auf Rauchvergiftung.“ Der Italiener sitzt aufrecht

1im Bett und versteht kein Wort. Zu allen Fällen gibt der Professor seine Anweisungen. Sie lauten: Beobachten, verlegen, untersuchen. Er überprüft die Maßnahmen der Aufnahmeärzte und übernimmt damit die Verantwortung für die Patienten, bis sie auf eine reguläre Station verlegt sind.

Georg Hoppe-Seyler ist Facharzt für Endoskopie, also für Spiegelungen aller Art im Inneren des Menschen. Der schlanke, grauhaarige Mann sagt von sich, er sei Arzt aus Leidenschaft: „Es gibt kaum einen interessanteren und schöneren Beruf, als medizinisch tätig zu sein.“ Er arbeite jeden Tag von 8 bis 19 Uhr. „Es ist ein Beruf, bei dem man nicht einfach nach Hause gehen kann.“ Der „Halbgott in Weiß“ sei nicht brauchbar, meint er, doch die Ausbildung der jungen Mediziner „ist zu theoretisch, die lernen nur Krankheitsbilder“. Der Kontakt mit den Patienten, die richtige Mischung zwischen Autorität und Mitgefühl, gelinge deshalb vielen nicht. „Die menschliche Seite dieses Berufes muß man von zu Hause aus mitbringen.“

Der Professor weiter: „In der modernen Medizin gibt es sicherlich die Gefahr, daß die Patienten zur Auslastung der technischen Geräte gebraucht werden.“ Doch die Großgerätekommission schiebe oft einen Riegel vor teure Neuanschaffungen. „Da muß man die Notwendigkeit schon sehr genau begründen.“ Es gibt keine Ausnahmen? „Na ja“, sagt Hoppe-Seyler, „Wenn ein Krankenhaus einen Spezialisten braucht, wäre es dumm, ihm nicht die erforderlichen Geräte zur Verfügung zu stellen.“

Der weiß geflieste Raum, in dem eine Gastroskopie, also Magenspiegelung gemacht werden soll, ist kalt und funktionell. In der Mitte ein verstellbares Bett. Gastroskopie, Magenspiegelung. Der Patient, ein russischer Kaufmann, der hereingeführt wird, trägt einen grünen Kittel. Er hat Angst. Wie ein Boxer bekommt er einen Schutz für die Zähne in den Mund geschoben. Ein schwarzer Schlauch, der am Ende leuchtet, wird ihm in den Hals geschoben. „Jetzt schlucken, als wenn es ein Apfel wäre“, befiehlt die Schwester - und schon ist der Schlauch im Magen. Doch der Russe spuckt und hustet, er hat Schmerzen, er krümmt sich und muß gehalten werden, während Georg Hoppe-Seyler mit einem Su-

1cher in sein Inneres blickt.

Die Anfänge der Magenspiegelung waren dagegen primitiv. Im Jahre 1868 hat ein Schwertschlucker anstatt des gewohnten Degens ein Metallrohr geschluckt. Der Freiburger Internist Adolf Kussmaul wollte durch das Rohr in den Magen sehen - aber alles war dunkel. Georg Hoppe-Seyler sieht jetzt Pilze im Magen des Russen. „Die sind meistens normal und wichtig. Nur sind es hier zu viele, das deutet auf eine Krankheit hin.“ Näheres werden erst später weitere Untersuchungen zeigen.

In der Aufnahme werden unterdessen die Patienten verlegt, neue aufgenommen. Es ist großer Andrang. Die Schwestern ziehen Betten ab und fahren sie in den Keller zur Desinfektion. „Zeitaufwendig, weil es nur einen Fahrstuhl gibt“, sagt eine von ihnen. Bauliche Mängel gibt es viele im Harburger Krankenhaus. Die Flure sind eng. Wenn ein Bett durchgeschoben wird, müssen Patienten und Angehörige ausweichen. Im Keller werden auch schon mal Patienten von Pflegern umgeladen, damit es schneller geht. „Üblich ist das nicht, aber es kommt häufiger vor“, sagt einer vom hauseigenen Transportdienst.

Mehr Schreibtischarbeit als Krankenpflege

In der Bettenzentrale werden jeden Tag ungefähr 30 Betten von Verunreinigungen bis hin zu Läusen gereinigt. Diesmal ist auch das angegraute Bett des rußverschmierten Italieners dabei, der inzwischen verlegt wurde.

Zurück auf Station 51A. Die Schwestern führen die Visite-Anweisungen der Stationsärzte aus. Wieder sind an den „Klatschen“ bunte Reiter gezogen. Wieder wird nach der Pflege die Buchführung erledigt. Schwester Friederike stört der ewige Papierkram. „Ich bin Krankenschwester geworden, weil ich für Menschen da sein möchte, ihnen helfen.“ Doch sie sitzt inzwischen mehr am Schreibtisch als an den Betten der Patienten.

Stationsschwester Regina meint: „Teilweise tun mir die Patienten leid.“ Denn der Krankenhausalltag arbeite nicht für sie, sondern im Gegenteil oft gegen sie. Früher wurden sie sogar schon nachts um drei Uhr zum Waschen geweckt. Diese Zeiten sind vorbei. Schwester Regina hat auf ihrer Station die 1

2Gruppenpflege eingeführt. Es gibt zwei Gruppen, für die bestimmte Schwestern ganz zuständig sind, sich dort die Arbeit nach Belieben einteilen können. Der Erfolg: „Mehr Zeit für den Einzelfall.“ Das ist nötig, denn die Station 51A betreut zunehmend Krebspatienten. „Da ist viel Einfühlungsvermögen gefragt.“ Schwester Regina nimmt, wenn es notwendig ist, auch mal einen Patienten in den Arm. „Eine Berührung hat große Bedeutung für die Menschen.“

Drei bis sechs Todesfälle gibt es pro Monat auf der Station. Bei jedem Patienten wissen es die Schwestern als erste und oft viele Wochen im voraus. Wie gehen sie damit um? „Ohne jemanden zu Hause, mit dem ich reden kann, würde ich es nicht schaffen“, sagt Schwester Regina. „Viele Patienten, die hier gestorben sind, kann ich mir noch heute genau vorstellen.“ Pfleger-Schüler Matthias erinnert sich an seinen ersten Todesfall: „Die Schwester ist noch losgerannt, um einen Arzt zu rufen. Ich habe dem Patienten die Hand gehalten, da hat er die Augen verdreht und war tot.“

Auch Oberschwester Sigird Gonsior, mittlerweile Pflegedienstleiterin im Harburger Krankenhaus, erinnert sich an den einen oder anderen Todesfall: „Wenn alte Men-

1schen sterben, dann geht es noch. Manchmal weiß man aber, eine Frau kommt nicht zu ihrer Krebstherapie, um die Einschulung ihres Kindes zu erleben. Das ist bitter.“ Nicht selten kenne eine Schwester die Geschichte der Patienten besser als dessen Angehörigen.

Im Alltag der Schwestern gibt es viele Hindernisse, die der intensiven Betreuung entgegenstehen. „Wir müssen die Wäsche zusammenlegen“, beklagen sie sich. „Wie die Wäscherei das macht, passen sie nicht auf den Wagen.“ Eine große Hilfe ist Elke Wegener, die für das Telefon zuständig ist und immer mehr auch die Büroarbeit übernimmt. „Ein sinnvoller Versuch, uns zu entlasten“, erklärt Schwester Regina.

Wie auch die Arbeit von Gianna Brunke, die halbtags in der Küche beschäftigt ist. Ihre Tätigkeiten wurden früher von den Schwestern „nebenbei“ miterledigt. Gianna Brunke nimmt die Bestellungen auf, richtet Frühstücks- und Abendbrotplatten her und gibt das Essen aus. Bei den Patienten ist sie wegen ihrer Fröhlichkeit beliebt. Doch auch sie bekommt viel mit: „Wenn einer alles essen darf, weiß ich, es ist ein Krebspatient, der nicht mehr lange leben wird.“

Oberarzt Norbert Brüllke trägt die Insignien seiner ärztlichen Autorität im weißen Kittel: Stetoskop, Pflaster, Stifte. Seinen Umgang mit den Patienten hält er nicht immer für einen normalen. „Die Arbeitsbelastung ist sehr hoch, die Routinebehandlung blüht.“ Doch der Konflikt zwischen der Behandlung eines Menschen und dem wissenschaftlichen Interesse an seiner Krankheit sei nicht so groß, wie in den Universitätskliniken. Dennoch: „Von außen sieht man viel, was nicht sein sollte.“ Die Priorität des Gesundheitssystems sei eindeutig die schnelle Heilung. „Eine optimale Behandlung ist deshalb nicht möglich.“

Um 14.30 Uhr ist Übergabe. Die Schwestern der Frühschicht beenden ihren Dienst und erläutern ihrer Ablösung die Patienten nach Aktenlage. Jeder einzelne Fall wird angesprochen, auf Besonderheiten hingewiesen. Es wird Kaffee getrunken: Für die einen der letzte im Dienst, für die anderen der erste. Es ist jetzt Zeit für einen privaten Plausch — wenn nicht gerade die Patienten-Klingel läutet. Torsten Schubert