Ein Doppelzentner Kanzler

Hurra Deutschland  ■  G L O S S E

Aus Berlin Klaus-Detlef Haas

Ich habe den Kanzler gesehen. Als Puppe ist er sich viel ähnlicher. Denke schon, daß es wichtig war, ihn gesehen zu haben. Ob für ihn oder für mich - für einen von uns beiden war es wichtig. Noch wichtiger: ich habe ihn reden gehört. Ich bin gewiß der Richtige, denn ich habe mich für ihn entwickelt: von einem, der in den Taktlosigkeiten des Kanzlers noch Taktlosigkeiten erkennt, hin zu einem, der in den Taktlosigkeiten des Kanzlers noch den Kanzler erkennt.

Vor mir also konnte er die Lippen schwingen. Eine Rede reden, die an wen gerichtet war. Davon leben Reden schließlich. Dazu sind sie da. Der Kanzler auch. Er hat vor mir seine Lider klappern lassen können. Ich war für ihn da. Und das war gut.

Stellen Sie sich den für den Redner grausamen Zustand vor, er redet, und ich bin nicht da. Stellen Sie sich den für einen Gips grausamen Zustand vor, er ist angerührt, und er paßt in keine Ritze. Stellen Sie sich den für einen Kanzler grausamen Zustand vor, er investiert Geist, und keiner merkt es. Stellen Sie sich den für eine deutsche Handgranate grausamen Zustand vor, sie ist abgezogen, und keiner wirft sie. Das gilt sinngemäß für Abziehbilder, Eier bestimmten Fleißgrades und die gemeine Wurftomate.

Ich war ja Gott sei dank da. Und nicht allein. Hinter ihm stand der ganze Palast der Republik. Und die will er nun. Die ist dann auch für ihn da. Nicht nur ich. Wir (ge)hören ihm dann zu.

Wie gesagt, ich war nicht allein da. Schräg hinter mir standen noch die Generalfeldmarschälle Prinz Heinrich und Prinz Bernhard von Braunschweig sowie die Reitergenerale Hans Joachim von Ziethen und Friedrich Wilhelm von Seydlitz. Mit Rücken und anderem Körperteil zum Kanzler gewendet auch Hans Georg Wenzelslaus Knobelsdorff, Immanuel Kant, Samuel von Cocceji, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gleim und Christian Fürchtgott Gellert. Für dieses rückwertige Spalier hatte Christian Daniel Rauch gesorgt. Typisch - die Haltung des deutschen Intellektuellen zum deutschen Kanzler!

Die Gewißheit, die man bei des Kanzlers Rede gewinnt, freilich nur, wenn man eben da ist wie ich, ist verglichbar mit dem Ansteigen der Quecksilbersäule in einem Fieberthermometer - es gibt für die Gewißheit nur diesen einen Weg geradeaus und nach oben. Es sei denn, man wird von außen gepackt und kräftig geschüttelt. Zeitgenossen der Gewißheit - seid die Chronisten der Fieberkurve! Hört dem deutschen Kanzler zu!

Nun, er redete, wie er es eben kann. Und ich war da. Klar. Der Schiffbrüchige klammert sich an die Planken des Schiffes, mit dem er grad gescheitert ist. Dann nimmt ihn der Kapitän des Dampfers, von dem er eben gerammt wurde, an Bord. Dort steht er und hört dem Käptn zu.

Ich höre dem Kanzler zu. Ich bin ja da. Hinter mir hustet einer. Ich dreh mich um, da ist der auch da. Redet der Kanzler auch für ihn? Der Kanzler redet für jeden Deutschen. Also auch für jeden zweiten Deutschen. Aber das sind ja nur 50 Prozent! Ob das der Kanzler weiß?

Ich liebe den Kanzler. Einen Doppelzentner Kanzler. Mehr Kanzler gab es nie. In einem deutschen Kanzler. Ich liebe ihn alle. Den ganzen Kanzlerissimus.