Der Zerfall der Reagan-Ideologie

■ Keine der Reagan-Ideen hat die sieben Jahre an der Macht unbeschadet überstanden: Das „Reich des Bösen“ liegt für viele Amerikaner heute hinter japanischen Fabriktoren oder gar in den „autonomen Zellen“ der Administration

Den „Kurs zu ändern“, wie es Jesse Jackson fordert, heißt nichts anderes, als über sieben Jahre Reagan-Revolution rückgängig zu machen, in der die Fundamente der politischen Debatte radikal verändert wurden. Fast alles wurde von den konservativen Ultras umdefiniert: Zwanzig Jahre nach Lyndon B. Johnsons „Great Society“ ist der Staat nicht länger dazu da, einzugreifen, um ein gerechteres Funktionieren der Gesellschaft zu sichern, sondern er soll den Kräften des Marktes in allen gesellschaftlichen Bereichen freie Bahn schaffen. Was diese Kräfte behindert, seien es Bürokratien oder Gewerkschaften, muß weichen.

In einem vom Individualismus geprägten Amerika der achtziger Jahre war dies ein populärer Gedanke. Unter Reagan bekamen konservative soziale Bewegungen heftigen Rückenwind. Sie stritten gegen höhere Steuern, gegen staatliche Kontrolle des Waffenbesitzes und für die sozialpolitischen Vorstellungen der fundamentalistisch-protestantischen Kirchen, also das obligatorische Schulgebet und die christliche Schöpfungslehre anstatt der heidnischen Evolutionstheorie. Reagan-kritische Oppositionsbewegungen hatten lange einen schweren Stand. Viele Organisationen, die gegen Reagans Aufrüstungsprogramm gestritten hatten, wurden rasch professionalisiert und in Washingtoner Lobby-Kampagnen umgewandelt. Da sie keinen Zugriff auf den übermächtigen Medienapparat hatten, mußten sie mit gebundenen Händen zusehen, wie Reagans Sicht der Welt tagtäglich nahezu unüberprüft und unangefochten in die amerikanischen Köpfe getrichtert wurde. Reagans Verteufelung der Sandinisten konnte bis zu einem Punkt getrieben werden, an dem sie auch von Liberalen als totalitäre Gefahr angesehen wurden. Reagans Dämonisierung Muammar Gaddhafis ging so weit, daß der Bombenangriff auf Libyen praktisch ohne öffentliche Kritik hingenommen wurde. Die Verdrehung der Wahrheit anläßlich der Invasion Grenadas gelang so vollständig, daß die Militäraktion sogar noch von dem demokratischen Präsidentschaftsbewerber Albert Gore verteidigt wurde.

Doch die einst so erfolgreiche Politmaschinerie der Reagan -Administration stottert nur noch mit halber Kraft durch ihre letzten Monate. Die Überzeugungsfähigkeit des Präsidenten nimmt mit der gleichen Geschwindigkeit ab, wie seine Mannschaft sich in alle Winde zerstreut. Einige getreue Reaganistas traten aus Übermüdung zurück, einige wurden vom Staatsanwalt aus dem Verkehr gezogen, andere verließen das sinkende Schiff, solange das für sie noch mit Anstand möglich war. Gelegentlich hatten sie genug erlebt, um ein Buch zu schreiben, in dem wohlgehütete Washingtoner Intimitäten wie die Astrologieabhängigkeit Nancy Reagans preisgegeben wurden.

Spätestens im September, wenn in Washington der Strafprozeß gegen Oliver North beginnt, wird die Öffentlichkeit an den Beginn des Zerfalls der Reagan-Revolution erinnert werden. Der verheimlichte Waffenhandel mit dem Iran, die tollkühne Eigenmächtigkeit seiner Untergebenen und die unglaublich plumpen Vertuschungsversuche der Affaire waren nur der Anfang vom Ende. Die Öffentlichkeit schenkte den Beteuerungen Reagans, er habe von den trüben Machenschaften seiner Unterlinge nichts gewußt, keinen Glauben mehr. Der Zynismus des Wahlvolks über ihre Politiker in Washington erreichte neue Höhepunkte. Unter dem Druck ermutigter oppositioneller Gruppen verweigerte auch der Kongres Reagan in vielen Fragen - von Umweltschutzgesetzen über Contra -Hilfe bis zu Supreme Court-Richter Robert Bork - immer häufiger die Gefolgschaft. Der Niedergang der Reagan -Ideologie wurde von außen noch beschleunigt. Sorgsam gepflegte Feindbilder zerbrachen. Nicht nur im zentralamerikanischen Hinterhof wurde ein eigener Weg zur Beendigung der von den USA geschürten Konflikte gefunden, sondern auch das „Reich des Bösen“ begann sich mit einer Geschwindigkeit zu reformieren, die niemand für möglich gehalten hätte.

Spätestens mit Gorbatschows Besuch in Washington Ende vergangenen Jahres wurde nicht nur die Dynamik des Wettrüstens umgekehrt, sondern, so zumindest die auf der New Yorker Konferenz geäußerte Ansicht Paul Robeson Jrs., auch das Ende des Kalten Krieges eingeläutet. Dessen These lautete, daß Gorbatschow die amerikanische Politik genauso entscheidend verändert habe wie die sowjetische. Der beste Beweis für deren Richtigkeit ist, daß die „sowjetische Gefahr“ in der gegenwärtigen Präsidentschaftskampagne kein Thema mehr ist. Bedroht fühlen sich die Bürger der Vereinigten Staaten viel mehr auf ökonomischem Gebiet; in der öffentlichen Angstskala hat Japan die Sowjetunion als Spitzenreiter abgelöst. Deren Waffen sind jedoch keine todbringenden Raketen, sondern Autos, Videorecorder und vor allem Dollarüberschüsse, mit denen sie nun munter amerikanische Wolkenkratzer, Firmen und Banken aufkaufen. „Die ausländische Invasion der USA“, so der Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugmann, werde in den neunziger Jahren zum wichtigsten Thema werden. Diese Angst vor dem wirtschaftlichen Niedergang ihres Landes schuf bei vielen Amerikanern ein diffuses Unbehagen über die Zukunft und die Chancen auf einen weiter ansteigenden Lebenstandard ihrer Familien. Beunruhigt über weiter wachsende Defizite und riesige Schwankungen in den Dollar- und Wall Street -Kursen, haben viele an der Weisheit der einst populären Reaganschen Wirtschaftspolitik zu zweifeln begonnen.

Stefan Schaaf