Streicher und Maler

Warum das neue Jahr nicht mal mit einer Orgie beginnen? Das Projekt Berlin String Theory verbindet Kunst, Orchestermusik und Indiekonzert zu einer großen Crossover-Party – zu besichtigen beim diesjährigen Neujahrskonzert in der Volksbühne

VON NINA APIN

Bisher war das Neujahrskonzert in der Volksbühne eine Veranstaltung für verkaterte Indie-Fans, bei der sich Bands wie Kante oder Tocotronic gemütlich vom gepolsterten Theatersitz aus betrachten ließen. Doch dieses Jahr darf man den Titel ruhig wörtlich nehmen: Am Dienstag wird, wie bei den traditionellen Klassik-Neujahrskonzerten, auf der Bühne tatsächlich ein Orchester zu sehen sein, nebst SängerInnen in Abendkleid und Smoking.

Allzu klassisch und artig wird es trotzdem nicht werden, höchstens arty. „Berlin String Theory“ ist ein Gemeinschaftsprojekt von Kreativen aus Musikproduktion und Kunst, die mit Klassik im Berliner Dom garantiert nichts am Hut haben. Neben der Pop-Produktionsfirma Transporterraum und den Musikern von Warren Suicide steckt eine Künstlergruppe dahinter, die unter dem Namen Party Arty genresprengende Partys zwischen Konzert, Vernissage und Spoken-Word-Performance veranstaltet. „A Night of Vibes from Different Tribes“ ist das Motto der Abende, die regelmäßig im Festsaal Kreuzberg stattfinden und an denen sich alles mit allem vermischt: Street Art mit Malerei, Poetry-Slam mit Punk, DJ- und Videokunst. Auch bei Berlin String Theory werden Grenzen gesprengt. Hauptberufliche Orchestermusiker interpretieren an Geige, Violoncello oder Bratsche die Stücke von Berliner Popmusikern wie Soffy O., Pitchtuner, Gods of Blitz oder Katze. Rund 20 InterpretInnen werden sich zur Streicherbegleitung am Mikro abwechseln und ihre Songs im neuen Arrangement vortragen, parallel wird im Sternfoyer Kunst ausgestellt.

„Weil die Bands aus den unterschiedlichsten Stilrichtungen kommen, dürfte es eher eine schräge Revue werden als ein besinnliches Unplugged-Konzert“, sagt Nackt, Mitglied des Musikerkollektivs Warren Suicide, in deren Neuköllner Studio die Idee zu Berlin String Theory entstand. Dort wurde innerhalb von drei Tagen die CD aufgenommen, mit der alles begann: Während einer dreitägigen Loftparty spielten Orchestermusiker im Wohnzimmer die Songs von 13 Bands ein, deren Noten für Orchester neu arrangiert worden waren. SängerInnen der Bands steuerten die Vocals bei, während in der Küche Maler von Party-Arty die entstandene Musik künstlerisch interpretierten.

„Ein verrücktes Experiment unter extremer Zeitknappheit“ nennt Elektromusiker Nackt die Aufnahmesessions, für die er zum ersten Mal Flügelhorn spielte und in die Rolle eines Dirigenten schlüpfte. Den Sound, der dabei entstand, findet er „sehr unpoppig, fast schon Strawinsky“. Zur Uraufführung wurden Freunde geladen, das Resultat war eine ausufernde Party mit 300 Leuten, die bis in den späten Vormittag ging. Spoken-Word-Performer Yaneq, für die künstlerische Seite des Experiments zuständig, schwärmt von einer an Warhols Factory erinnernden Ausnahmeatmosphäre. „Bei Berlin String Theory“, sagt er, „laufen mehrere Fäden eines Netzwerks zusammen, das über Jahre quer durch alle Disziplinen entstanden ist.“ Auf den Party-Arty-Abenden lernten sich Kreative kennen, die nicht an Genregrenzen glauben. Musiker stellten ihre Bilder aus und Künstlerinnen traten wie DJs gegeneinander vor Publikum an.

Der nächste logische Schritt war die CD-Aufnahme bei Warren Suicide: „Auch unter jüngeren Orchestermusikern gibt es viele, die mal was anderes ausprobieren wollen“, sagt Yaneq, der auf der CD zu psychotisch hackenden Geigen über Gefühle rappt. Videoclips von der Party, die im Internet zu sehen sind, bestätigen, dass hier mehr entstanden ist als eine weitere Partyreihe. Cobra-Killer-Krawallschachtel Gina D’Orio duettiert überraschend zart zur Geige mit Electro-Sängerin Soffie O., die sonst brachialen Gitarrenrocker von Gods of Blitz verbreiten mit Blasinstrumenten Balkanpartystimmung. Und die französischen Songs von „Paula“-Chanteuse Elke Brauweiler bekommen im Klassik-Arrangement eine dramatische Note und inspirieren die MalerInnen zu großen Pinselstrichen.

Bei der Aufführung der neu arrangierten Songs hatten KünstlerInnen und Publikum so viel Spaß am Aufheben von Konventionen, dass es sie nun auf die ganz große Bühne drängt. Die Orchestermusiker in Jeans und Pulli, die PopmusikerInnen in Abendgarderobe. Die Chancen stehen gut, dass das neue Jahr mit einer Orgie beginnt.

Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte, 1. Januar 2008, 20 Uhr