Zweifelhafte Krawall-Prognose

NEONAZI-MARSCH Verwaltungsgericht erklärt Verbot einer Demo gegen Nazis in Bad Nenndorf nachträglich für rechtswidrig. Es habe kein polizeilicher Notstand geherrscht

Seit 2006 ist Bad Nenndorf alljährlich im August Pilgerort militanter Neonazis, die mit einem sogenannten Trauermarsch zur alten Badeanstalt deutscher Kriegsverbrecher gedenken, die in dem zum Gefängnis umgebauten Bad von Alliierten von 1945 bis 1947 inhaftiert worden sind.

■ Verboten hat der Landkreis am 11. 8. 2010 Trauermarsch und Bürgerprotest, nachdem der Verfassungsschutz die Gewaltprognose abgegeben hatte.

■ Marschieren wollen Neonazis künftig jedes Jahr im August. Bis 2030 sind Trauermärsche angemeldet worden.

VON KAI VON APPEN

Das Verbot war rechtswidrig: Das Bürger-Bündnis „Bad Nenndorf ist bunt“ und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hätten im August 2010 in dem niedersächsischen Kurort gegen den sogenannten Trauermarsch von Neonazis demonstrieren dürfen. Das hat die 10. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover nach zweitägiger Beweisaufnahme entschieden. Eine diffuse Gefahrenprognose des Verfassungsschutzes, die niemand überprüfen könne, reiche nicht aus, um einen „polizeilichen Notstand“ zu begründen. Die Kammer korrigierte damit ihr eigenes Urteil aus dem vorigen Jahr.

Damals war in einem Eilverfahren das Verbot bestätigt worden, das der Landkreis Schaumburg über die Bürgerproteste und zunächst auch den rechtsextremen Trauermarsch selbst verhängt hatte. Die Ordnungsdezernentin des Kreises, Ursula Müller-Kratz, war von einem „polizeilichen Notstand“ ausgegangen: Es stünden nicht genügend Polizisten zur Verfügung, um beide Lager demonstrieren zu lassen.

Nun hingegen erklärte Gerichtssprecherin Antje Niewisch-Lennartz, dass es möglich gewesen wäre, ausreichend Beamte bereitzustellen, „wenn man sich rechtzeitig Mühe gegeben hätte, Reserven zu mobilisieren“.

Das Gericht gelangte zu der Einschätzung, dass die damalige Gefahrenprognose vom Inlandsgeheimdienst zweifelhaft beziehungsweise nicht überprüfbar sei. Nach ihr wollten nicht nur 250 militante autonome Nationalisten, sondern auch 500 „gewaltbereite Linksextremisten“ anreisen und in Bad Nenndorf schwere Ausschreitungen provozieren. In der Tat fand sich aber keine „Gespensterarmee“ aus militanten Autonomen am 14. August 2010 in Bad Nenndorf ein. Die Verbote hatten sich jedoch ausschließlich auf diese Gefahrenprognose gestützt.

In dem Verfahren seien den Richtern viele Akten verschlossen geblieben, sagt Sprecherin Niewisch-Lennartz, „weil sie mit einem Sperrvermerk des Innenministeriums versehen sind“ und sich auch der stellvertretende Verfassungsschutz-Chef nicht zu Quellen für die Prognose geäußert habe.

Aber auch ohne Überprüfung der Prognose sei das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass mit 1.800 Beamten genügend niedersächsische Polzisten zur Verfügung gestanden hätten, um den möglichen Gefahren zu begegnen. Steffen Holz, DGB-Sekretär in Niedersachsen-Mitte, nennt den Richterspruch einen „Sieg für die Bürgerrechtsbewegung“, bedauert aber, dass die Arbeitsmethoden und Quellen des Verfassungsschutzes im Verborgenen geblieben seien, da sie keiner gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden konnten.

Noch voriges Jahr hatte die 10. Kammer des Gerichts zwar das Verbot des Neonazi-Marsches gelockert, jedoch im parallelen Eilverfahren das Demonstrationsverbot für DGB und Bündnis bestätigt – unter Berufung auf die Krawall-Prognose. Erst das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hatte in letzter Minute zumindest eine stationäre DGB-Kundgebung zugelassen – wenn auch nur am Stadtrand.