Wehe, wenn

Nach dem Volksentscheid über Stuttgart 21 ist die Frage, ob sich jetzt im Landtag eine Mehrheit findet, um das Quorum zu senken. Die Landesverfassung sei dringend reformbedürftig, sagt der Verwaltungswissenschaftler Roland Geitmann

von Hermann Abmayr

Das Volk von Baden-Württemberg hat die alten Eliten beim Referendum Ende November noch einmal bestätigt, zumindest die Mehrheit von 59 Prozent der Wähler. Doch wehe, die Koalition aus CDU, FDP, Teilen der SPD, der Wirtschaftsverbände und der örtlichen Honoratioren bricht ihre Wahlversprechen. Wehe, im Stuttgarter Talkessel entstünde Europas größte und teuerste Bauruine. Die Erfahrungen der Protestjahre 2010 und 2011 würden schnell reaktiviert.

Die Demokratiefrage stellt sich aber schon jetzt – oder die Frage nach einem neuen Gesellschaftsvertrag, wie der Verwaltungswissenschaftler Roland Geitmann „im Blick auf soziale und ökologische Grundprobleme unserer Zeit“ meint.

Wird es ein Referendum wie jüngst und einen zum Teil hoch emotionalen Abstimmungskampf in Baden-Württemberg noch einmal geben? Oder müssen die Regeln geändert werden? Roland Geitmann sieht zuerst das Positive: Die hohe Beteiligung habe bestätigt, dass die Bevölkerung zu mehr Mitverantwortung bereit ist, so der emeritierte Professor der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl.

Seit vielen Jahren berät Geitmann den Verein „Mehr Demokratie“. Noch nie war die Resonanz so groß wie 2010 und 2011. „Die Bürger sind aufgewacht. Sie wollen auf Kommunal- und Landesebene in Sachfragen mitentscheiden“, sagt der parteilose Jurist mit kommunalpolitischer Erfahrung. Von 1974 bis 1982 war er Oberbürgermeister in Schramberg und viele Jahre im Kreistag Rottweil. Klar, dass er sich nach diesen Erfahrungen nicht nur die Demokratisierung der Landesverfassung wünscht, sondern auch die der Gemeinde- und der Landkreisordnung.

Roland Geitmann beruft sich dabei auf das Grundgesetz. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es darin. „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“ Doch im Gegensatz etwa zur Schweiz tue sich die Politik mit Abstimmungen schwer. 1948/49 habe der Parlamentarische Rat Anträge sowohl des katholischen Zentrums als auch der Kommunisten zur Ausgestaltung des Abstimmungsrechts abgelehnt. Man wollte vor allem verhindern, dass das Volk die Westorientierung der jungen Bundesrepublik gefährdet. Doch auch über 20 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts betont Kanzlerin Angela Merkel, dass sie Volksabstimmungen auf Bundesebene weiterhin ablehnt. Lieber erklärt die CDU-Chefin eine Landtagswahl zur Volksabstimmung. Wie jüngst die Wahl in Baden-Württemberg, die dann allerdings zum Sturz des CDU-Ministerpräsidenten führte.

„In Baden-Württemberg hatten die Christdemokraten einmal mehr übrig für Volksabstimmungen“, sagt Roland Geitmann. Gebhard Müller, der spätere Ministerpräsident, wollte in der verfassungsgebenden Versammlung des Südweststaats 1952 den Stimmbürgern durch Volksbegehren einen einfachen Weg zu Volksabstimmungen ermöglichen. Unterstützt wurden die damals oppositionellen Christdemokraten aber nur von den Kommunisten. Ausgerechnet die Sozialdemokraten, die eine Volksgesetzgebung bereits im Eisenacher Programm von 1869 gefordert hatten, blockten dies ab. Zusammen mit den Vertretern der FDP, der DVP (Deutsche Volkspartei) und des BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) ließen sie lediglich Volksabstimmungen zur Auflösung des Landtags zu, für Verfassungsänderungen und bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierung und Landtag.

Auf der Basis dieser Regelung fand jüngst die Volksabstimmung über den Ausstieg des Landes aus der Stuttgart-21-Finanzierung statt. Allerdings kannte die Landesverfassung damals bei einfachen Gesetzen kein Zustimmungsquorum. Die Mehrheit sollte entscheiden. Erst 1974 im Zusammenhang mit der Einführung des Volksbegehrens kam die Einschränkung hinzu, dass ein Gesetz nur dann als beschlossen gilt, wenn die zustimmende Mehrheit mindestens einem Drittel aller Wahlberechtigten entspricht. Nach dieser Regel hätte weder Schwarz-Gelb unter Ministerpräsident Oettinger und Mappus regieren können noch jetzt Grün-Rot.

Wenn das Referendum am 27. November nicht an der Mehrheit, sondern am Zustimmungsquorum gescheitert wäre, so vermutete man bei „Mehr Demokratie“, wäre noch deutlicher geworden, wie reformbedürftig die Landesverfassung in diesem Punkt ist. Doch auch jetzt bleibe die Streichung des Quorums gemäß bayerischem Vorbild auf der Tagesordnung. Das Gleiche gelte für Erleichterungen für Volksbegehren. Denn im grün-roten Koalitionsvertrag haben sich die Regierungsparteien ausdrücklich zu mehr direkter Demokratie verpflichtet.

Allerdings bedarf es für eine Verfassungsänderung im Landtag einer Zweidrittelmehrheit. Falls die CDU nicht mitmacht, bliebe nur noch das Volk als Retter der direkten Demokratie. Doch die Hürde für eine Änderung der Verfassung mittels Volksabstimmung ist noch höher als bei einfachen Gesetzen. Mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten müssten mit Ja stimmen. Dies wäre wohl nur an einem Wahltag und am ehesten verbunden mit der Bundestagswahl im Herbst 2013 erreichbar, wie es Ministerpräsident Kretschmann jüngst angedeutet hatte. Geitmann sähe darin eine große Chance: „Eine Volksabstimmung über die Regeln der Volksabstimmung würde Demokratie in den Herzen der Menschen tief verankern.“ Sie wäre für Baden-Württemberg „wie ein neuer Gesellschaftsvertrag über das künftige Zusammenleben“.