Jeder trauert für sich

Die großen Tragödien des Lebens und die alltäglichen Kleinigkeiten des Einkaufens: In ihrem Roman „Miranda“ erzählt Margaret Forster von Schicksalsschlägen und ihrer Verarbeitung

„Ich muss irgendwo anfangen und versuchen zu verstehen.“ Mit diesen Worten beginnt die Trauerarbeit von Louise, genannt Lou, Mitte vierzig, verheiratet und Mutter von drei, nein zwei Kindern: Miranda ist tot, vor einem guten Jahr ertrunken bei einem Segelausflug in Holland, mit gerade mal 18 Jahren. Eigentlich hat Lou bereits alles verstanden: ein Streit Mirandas mit ihrem damaligen Schwarm Alex, sie fährt allein hinaus aufs Meer, ein Sturm kommt auf, Miranda hat keine große Segelerfahrung und geht über Bord. Aber verstehen bedeutet nicht, dass sie es begriffen, also in ihr Leben integriert hätte, und deshalb schreibt sie.

Don, der Vater, hat eine andere Strategie. Er kann nicht einsehen, dass der Tod seiner Lieblingstochter ein Unfall war, und betreibt auch noch über ein Jahr später Nachforschungen in der verzweifelten Hoffnung, einen Schuldigen zu finden – war das Funkgerät kaputt oder die Schwimmweste?

Lou und Don ziehen an keinem gemeinsamen Strang, jeder arbeitet und trauert für sich, und so driften die beiden immer weiter auseinander. Zwar möchte Lou eigentlich nach vorne blicken, aber zugleich will sie sich von keinem, besonders nicht von ihrem Mann Don nachsagen lassen, dass sie über Mirandas Tod hinweg sei. Zum Verlust der geliebten Tochter gesellt sich der drohende Verlust der Ehe.

In Margaret Forsters Roman „Miranda“ erfährt man nur wenig über Don, dafür umso mehr über Lou. Je mehr Don seine Frau ignoriert, desto mehr sucht Lou sich daran zu orientieren, was andere von ihr denken: Was denken wohl Molly und Finn, ihre anderen beiden Kinder, über sie, und wie kann sie den widersprüchlichen Aussagen ihrer Freundinnen gleichermaßen etwas abgewinnen? Und was mag Jeremy, ihr neuer Kollege, davon halten, dass sie sich so wenig um ihn kümmert? Und ist es in Ordnung, dass sie von den Verlusten und dem Schmerz anderer Familien manchmal einfach gar nichts wissen will? So zermartert sich Lou den Kopf, über 300 Seiten hinweg.

Es passiert nicht viel in diesem Buch. Stattdessen erfährt man einiges über das frühere Haus der Familie, Lous neue und neutral eingerichtete Wohnung, das heruntergekommene Zimmer, in dem Don zeitweise haust, Lous Wege durch London, das Outfit, das sich Lou für Mollys Geburtstagsparty anschafft, und das Geschenk, das sie für sie besorgt. Ein vielleicht in manchem allzu typischer Frauenroman also, der sich mit den Kleinigkeiten des Alltags befasst, während das männliche Familienoberhaupt sich der wahren Tragödie der Familie annimmt. Doch Margaret Forsters Konzept geht auf, denn es sind diese Kleinigkeiten, die Mirandas Andenken ausmachen – und es sind die gleichen Kleinigkeiten, die es ihrer Mutter Louise nach und nach ermöglichen, wieder und weiterzuleben.

In der Grundschulklasse, die Lou unterrichtet, werden die Kleinigkeiten des Alltags mit den großen Dingen des Lebens zusammen verhandelt. Da kann es vorkommen, dass man gerade über so ernste Themen wie Freundschaft und Tod spricht, und der kleine Haroun pupst. Aber man lernt eben nicht für die Schule, sondern für das Leben – und da stehen, genauso wie in Forsters „Miranda“, die großen Tragödien neben den alltäglichen Kleinigkeiten des Einkaufens und Kochens, die das Leben weitergehen lassen. Vielleicht ist es das, was Lou am Schluss des Buchs verstanden hat. Nun kann sie mit dem Schreiben aufhören. MARGRET FETZER

Margaret Forster: „Miranda“. Aus dem Englischen von Saskia Bontjes van Beek. Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2007, 320 S., 19,90 Euro