Herumtreiber bei der Queen

Der wunderbare Band „Alphabet der polnischen Wunder“ präsentiert in 130 informativen und kurzweiligen Essays und schönen Illustrationen ein Polen jenseits der üblichen Stereotype wie Autoklau, US-Vasallentreue oder Streit über die Vertriebenenfrage

VON MARIE LUISE KNOTT

In vielen Ländern Osteuropas führen bis heute rechtsstaatliche Vorstellungen und nationale Mythen völlig getrennte Eigenleben. Es ist eben nicht gelungen, identitäre und politische Konzepte zu schaffen, bemerkte kürzlich der ungarische Autor Gábor Schein. Gerade das wilde Eigenleben der nationalen Mythen ist aber immer wieder eine Gefahr für die Politik. Polen ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Davon geben einerseits der gekränkte Nationalstolz und andererseits die Polenwitze ein beredtes Zeugnis.

Der Band „Alphabet der polnischen Wunder“ mit seinen 130 äußerst informativen und kurzweiligen Essays präsentiert dem deutschen Publikum nun ein Polen jenseits der üblichen Stereotype wie Autoklau, Polnische Wirtschaft, US-Vasallentreue oder Streit über die Vertriebenenfrage. Neben Informationen, die unter politischen Stichworten wie „England“ (Protektionsmacht), „Landkarte“ (Territorialgeschichte), „JP II“ (Kirche), „Jedwabne“ (Antisemitismus), „Rapallo-Komplex“ oder „Sonderwirtschaftszonen“ geliefert werden, versammelt die Herausgeberin Stefanie Peter vor allem Erzählungen aus dem Reich der kollektiven Fantasie.

Erwähnt werden die aus Polen stammende kleine unvollendete Form des „Impromptu“, der in Berlin ansässige real-surreale „Club der polnischen Versager“ ebenso wie die legendäre Warschauer Galerie „Foksal“, das „Mekka der polnischen Konzeptkunst“, wo, wie es seinerzeit einmal hieß, „die bindenden Gesetze der Welt ihre Gültigkeit verlieren“ sollten. Daran arbeitete die Kunst.

Seinen Anfang genommen hat der Band im „Büro Kopernikus“, mit dem die Kulturstiftung des Bundes im deutsch-polnischen Jahr 2006 den „Kulturaustausch befördern“ und „Initialzündungen“ liefern wollte. Solche Initiativen laufen meist Gefahr, sich in ein paar Veranstaltungen und viel gutem Willen zu erschöpfen. In diesem Falle – und das ist ein Glücksfall – haben die polnischen und deutschen Autoren all ihre Kenntnisse schwarz auf weiß zusammengetragen, darunter der Schriftsteller Karl Markus Gauß, der Polenkenner und Übersetzer Martin Pollack, der Verleger Paweł Dunin-Wąsowicz und die Dramaturgin Dorota Sajewska.

Doch das „Alphabet“ versteht sich explizit in keinem Moment als besseres Geschichtswerk. Unter dem Stichwort „Solidarność“ etwa liest man drei Geschichten, die man in keinem Geschichtsbuch findet. Erstens dass zu Beginn der Bewegung Ende der 1970er-Jahre innerhalb eines Monats der Alkoholkonsum um 80 Prozent zurückging, was die Machthaber zu Recht sehr beunruhigte; zweitens, dass der Name Wałęsa von dem Wort „sich herumtreiben“ kommt und auch Wałęsa vor Solidarność-Zeiten ein „fauler Hund“ war, wie er von sich sagte.

Und drittens erfahren wir, dass Lech Wałęsa – der gelernte Elektriker, der nach 1989 als Staatspräsident in die Weltpolitik geriet – einmal als Gast bei der Queen auf die defekten Steckdosen im Buckingham Palace hinwies. Ob sie die Mahnung tatsächlich nicht hörte oder nur nicht hören wollte, ist unbekannt. Ganz Polen weiß jedoch noch heute, dass es aufgrund defekter Stromleitungen kurz nach Wałęsas Besuch im Palast der Königin brannte.

In den Illustrationen von Maciej Sieńczyk werden Fundstücke der Realität derart mit Imagination angereichert, dass neue Wahrheiten entstehen. Tatsächlich erhält der Leser dieser lebendigen Komposition aus Anekdoten, Informationen und Imaginationen vielfältigste Einblicke in die polnische Gegenwart, darunter auch in den postkommunistischen Neusprech: Warum die Straßenbahnen „Helmutys“, die Veteranen von Solidarność „Styropor“ oder Menschen, die andere imitieren, „Kserobojs“ heißen.

Es fehlt ebenso wenig die „Landbewegung polnischer Literaten“ aus dem 19. Jahrhundert wie die jüngste Debatte über die „Lustracja“, die Öffnung der Geheimdienstakten. Auch der Ort Dukla von Andrzej Stasiuk hat einen eigenen Eintrag. Frei assoziierend und im besten Sinne respektlos arbeiten die Autoren mit baren Münzen und baren Mythen. Sie schaffen so dringend notwendige Scharniere zwischen politischer und historischer Wirklichkeit, rechtsstaatlicher Entwicklung und dem Anekdotenschatz des Landes, der sich über die Jahrhunderte angesammelt hat. So verwundert nicht, dass unter dem Stichwort „Bild“ vor allem vom gekränkten Nationalstolz die Rede ist.

Den Fetisch der objektiven Wahrheit über Bord zu werfen – ein Anspruch, an dem ein solches Projekt sowieso hätte scheitern müssen – schafft Freiheit und die Möglichkeit, zu Wahrheiten jenseits der Gesellschafts- und Politikdiskurse zu gelangen. So gerät der Dialog zwischen den Kulturen Deutschlands und Polens zum Schwingen. Und: Man sollte unbedingt einmal wieder nach Polen reisen – das „Alphabet der polnischen Wunder“ im Gepäck.

Stefanie Peter (Hg.): „Alphabet der polnischen Wunder. Ein Wörterbuch“. Illustriert von Maciej Sieńczyk, 328 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 24,80 Euro