Als die Stadt den Wald fraß

WESTEND Vor 100 Jahren wuchs Berlin in Richtung Westen. Der heutige Theodor-Heuss-Platz lag damals noch an der Grenze zwischen Grau und Grün

VON HANNS ZISCHLER

Am beweglichen Saum zwischen „Weltstadt und Kiefernheide“ liegt im Jahr 1907 der fertiggestellte, aber noch unbebaute Reichskanzlerplatz. Von geradezu amerikanischer Weite und Einsamkeit ist das zwischen Sand und den schütteren Forsten verlaufende Gelände geprägt. Noch gibt es keine Siedlungen Eichkamp und Heerstraße, und bis zum Monstrum der NS-Wehrakademie am heutigen Teufelsberg ist noch einige Zeit hin. Aber die Lockung der vorstoßenden Terrainspekulation ist mit den Händen zu greifen.

Aber ebenso deutlich wie die Terrainparzellen ausgebreitet sind, ist auch das bis hierher reichende Waldgebiet des nördlichen Grunewalds am oberen Bildrand zu sehen, eine Art unantastbarer städtischer Grünbestand, welcher im Grunewald durch den Dauerwaldvertrag bis heute den Begehrlichkeiten der Bodenspekulation getrotzt hat.

Charlottenburg, damals die reichste Stadt Deutschlands, hat der Spekulation der Deutschen Bank und anderer Terraingesellschaften riesenhafte Flächen an „Bauerwartungsland“ vor allem im westlichen Umland überlassen. Der Drang nach Westen, schon im englischen Toponym Westend namentlich greifbar, setzt sich, wie auf der Fotografie von Waldemar Titzenthaler von 1907 ersichtlich, ungehindert fort; nördlich davon hat sich seit 1866 die Kolonie Westend in drei Bau- bzw. Spekulationsphasen zur Villenkolonie auf dem Spandauer Berg gemausert.

Der Drang nach Westen

Das Projekt, die Charlottenburger Chaussee (heute Straße des 17. Juni) in einer folgenreichen Meniskusoperation am „Knie“, (heute Ernst-Reuter-Platz) zur großen Ost-West-Magistrale zu verlängern, findet fürs Erste am Reichskanzlerplatz eine städtebaulich bedeutende Fermate, wenngleich die verkehrstechnische Lösung bis heute unbefriedigend ist. Man könnte von dem Geburts- oder Fortpflanzungsfehler einer überdimensionierten Stadtplanung sprechen.

1908 eröffnet der Kaiser persönlich den Streckenabschnitt der U-Bahn Knie – Reichskanzlerplatz, der die Bismarckstraße und den Kaiserdamm zusammenhält und städtebaulich aufwertet.

Das Gelände westlich des riesigen und für Fußgänger fast unüberquerbaren Platzes öffnet sich keilförmig zwischen Heer- und Reichsstraße und wird in den nächsten zwei Jahrzehnten bis zum heutigen S-Bahnhof Heerstraße im Süden und dem Steubenplatz im Norden mit luxuriösen Mietshäusern und Verwaltungsgebäuden bebaut. Der Landschaftsarchitekt und Stadtbaumeister Erwin Barth wird in diesem Areal seine bis heute unübertroffenen und immer noch gut nutzbaren Schmuckgärten anlegen: den Karolingerplatz, den Fürstenplatz und sein Meisterwerk aus dem Geist der märkischen Landschaft: den Sachsenplatz (heute: Brixplatz).

Merkwürdigerweise ahnt man bereits auf der Fotografie von Titzenthaler, dass dieser Platz selbst für Berliner Verhältnisse zu groß, zu ungefüg geraten ist; er trennt, weil mit zu breitem Straßenland ausgelegt, die einzelnen Teile mehr, als dass er sie verbindet. Eine Rücksicht auf querende Fahrgäste fällt somit weg, und der „autogerechte“ Individualverkehr darf sich ungehemmt entfalten. Warum der kluge Ingenieur Alfred Grenander ausgerechnet an diesem Platz nur ein Zugangspaar für die U-Bahn entworfen hat, bleibt rätselhaft. So ist dieser Platz, für den bislang nur Poelzig im Rahmen seiner im besten Sinn utopischen Messebauplanung (1926) eine überzeugende städtebauliche Integration ins Straßenraster gefunden hat, bis heute ein monströses Tempodrom.

Welche Wüstenei nur zehn Jahre vor der Fotografie Titzenthalers hier noch geherrscht hat, zeigt eine Fotografie Heinrich Zilles aus dem Herbst 1899. Sie hat den Titel „Kiesgrube am Westend.“

So ist der damalige Reichskanzlerplatz auf dem historischen Foto eine Chiffre dafür, wie sich die Stadt unaufhaltsam in Richtung Westen vorschiebt. Immerhin hat der genau vor hundert Jahren am 27. März 1915 abgeschlossene Dauerwaldvertrag diesem Drang ein Ende bereitet – und den restlichen Grunewald gerettet.

■ Hanns Zischler ist Schauspieler und Autor von „Berlin ist zu groß für Berlin“, Galiani Verlag

Wie der Dauerwaldvertrag den Grunewald rettete. SEITE 44, 45