DIE DREI FRAGEZEICHEN
: „Nacktes Überleben“

WER TRAUERT UM MAFIOSI? Am Mittwoch ist der Camorra-Boss Michele Zagaria in seinem Bunker festgenommen worden. Die Polizei jubelt, vor Ort herrscht Bedauern

taz: Herr Bolzoni, einer der mächtigsten Camorra-Bosse ist festgenommen. Hat der Albtraum jetzt langsam ein Ende?

Attilio Bolzoni: Ich glaube, dass sich hiermit wirklich ein Kreis schließt. Und auch im Rest Italiens ist ein Zyklus zum Ende gekommen, mit den Festnahmen der im Untergrund lebenden Groß-Chefs der klassischen organisierten Kriminalität: Mafia, ’Ndrangheta, Camorra. Die Namen Zagaria, Riina, Provenzano gehören der Vergangenheit an. Einer nach dem anderen sind sie aus dem Verkehr gezogen worden, es fehlt nur noch einer – der Sizilianer Matteo Messina Denaro. Ich weiß nicht, ob Zagaria bei seiner Festnahme tatsächlich die Worte „Der Staat hat gewonnen“ gesagt hat, aber es ist die Wahrheit. Der Staat hat gewonnen. Diese Kriminalität ist inakzeptabel für ein modernes Land.

Bisher ist es den Clans aber doch immer problemlos gelungen, sich zu reorganisieren?

Das stimmt zwar, aber das Niveau der Chefs sinkt immer weiter. Das eigentliche Problem ist ein anderes: Der Staat muss einfach noch besser werden in der Bekämpfung der Mafia-Organisationen. Er hat Zagaria, aber er hat nicht sein Geld – immerhin war Zagaria groß im Baugeschäft und auch in der Gastronomie in Rom und Mailand tätig. Man muss der Mafia das ganze Geld wegnehmen. Von Nord bis Süd ist Italien von schmutzigem Geld überzogen.

Die Bilder der Festnahme zeigen einen starken Kontrast: hier die Freude der Polizei, da das Bedauern, ja die Trauer der Leute vor Ort. Was ist da los?

Das muss man ganz praktisch sehen: Das organisierte Verbrechen vergibt Arbeit. Der große Herr, Michele Zagaria, ein 53-jähriger, armseliger Mafioso, ist zwar wie eine kleine Maus in einem Loch verhaftet worden, versorgt aber im Gegensatz zum Staat tausende Menschen mit Arbeit. Im Süden Italiens finden sich Orte, wo nur das organisierte Verbrechen Arbeit vergibt. Das Problem ist kein kulturelles, sondern ein ökonomisches. Es geht um das nackte Überleben. Gibt es den Willen, dieses Problem zu lösen? Das ist die Frage.

INTERVIEW: FRANCESCA SABATINELLI

■ Attilio Bolzoni ist Experte für organisierte Kriminalität und Redakteur bei der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ ■ F. Sabatinelli ist Gastredakteurin im Rahmen eines Austauschprogramms des Goethe-Instituts